
Begegnung auf der IPPNW-Delegationsreise in die Türkei und in die Autonome Region Kurdistan vom 09. bis 23. März 2013, Foto: Sigrid Ebritsch, März 2013
Als der Arbeitskreis Süd/Nord der IPPNW vor circa 17 Jahren die Arbeitsgruppe Deutschland-Türkei-Kurdistan gründete, fragten wir uns: Wie wirkt sich die Politik Deutschlands/der EU auf eine Krisenregion aus? Die Türkei lag nahe, der Konflikt war akut, die Beziehungen vielfältig und die Auswirkungen in Deutschland wegen der vielen Zuwanderer und Flüchtlinge deutlich. Unser Engagement war in der eigenen Organisation lange sehr umstritten. Zu groß waren die Berührungsängste gegenüber der als Terrororganisation verbotenen PKK. Der Bürgerkrieg der Türkei wurde auch auf deutschen Straßen ausgetragen.
Dabei haben alle Bundesregierungen die Politik der türkischen Regierungen gegenüber den Kurden übernommen. Kurden wurden und werden nicht als eigenständiges Volk anerkannt, sie werden als Terroristen kriminalisiert, wenn sie sich politisch für die Sache ihres Volkes einsetzen. Verweigerung des Kriegsdienstes in der Türkei wird in Deutschland nicht als Asylgrund anerkannt. Kurdische Vereine werden streng observiert und erhalten keine Förderung, nur selten gibt es muttersprachlichen Unterricht für kurdische Kinder.
Die Türkei als Nato-Partner wird großzügig mit Waffen beliefert und baut das deutsche Sturmgewehr G3 in Lizenz. Die EU-Beitrittsverhandlungen sind so verlogen und endlos, dass selbst starke Verfechter eines EU-Beitritts in der Türkei inzwischen das Interesse verlieren.
Es gibt auch über die intensiven Militär- und Wirtschaftsbeziehungen hinaus einige wenige positive Ansätze, einzelne Städtepartnerschaften, allerdings meist mit türkischen Städten im Westen. Eine Initiative in der Stadt Hannover setzt sich für eine Städtepartnerschaft mit Diyarbakir ein. Bei Entwicklungsprojekten achten die deutschen Geldgeber darauf, dass auch Projekte im Südosten gefördert werden, Es gibt studentischen Austausch, Praktika in zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parlamentarierdelegationen.
Die Millionen deutscher Touristen, die die Türkei als Urlaubsland schätzen, bleiben dagegen meist in ihren Ghettos und tragen nicht dazu bei, unser Bild von „den Türken“ zu verändern. Die Menschen im Westen der Türkei und in Europa wissen meist nichts von den Lebensumständen im rückständigen Südosten und übernehmen die Schwarz-weiß-Malerei der Regierung von den bösen Terroristen, vor denen der Rest der Welt geschützt werden muss.
Ob die Gezzi-Park Demonstrationen daran etwas ändern werden, bleibt abzuwarten. Immerhin haben dort viele eher unpolitische Menschen erfahren, wie schnell man in der Türkei ein Terrorist wird.
In Nordkurdistan hat es in den letzten Jahren große Veränderungen gegeben. Unter den gewählten kurdischen Bürgermeistern haben sich viele Orte vom „Schlammdorf in eine moderne Stadt“ verwandelt, wie es der Bürgermeister von Ceylanpinar bei dem Besuch einer IPPNW-Delegation im März diesen Jahres beschrieb.
Natürlich sind die alten Feudalstrukturen nicht völlig überwunden, aber es gibt in den Städten überall eine wache Zivilgesellschaft, eine wachsende Zahl von emanzipierten Frauen und ein Bewusstsein für die multireligiösen, multiethnischen und multikulturellen Traditionen. Diese Entwicklung ist längst nicht mehr auf Diyarbakir beschränkt. Der tiefe Wunsch nach Frieden ist überall zu spüren und entsprechend groß sind die Hoffnungen in den von der Erdogan-Regierung angekündigten Friedensprozess, der inzwischen ins Stocken geraten ist. Es gab Vorleistungen bisher nur von kurdischer Seite. Die PKK hat zum x-ten mal einen einseitigen Waffenstillstand eingehalten und ihre Kämpfer aus der Türkei zurück gezogen. Die türkische Seite reagiert mit dem Bau neuer Militärstützpunkte entlang der Grenzen.
In Syrien unterstützt die Türkei die islamistischen Kämpfer und schließt kurdische Flüchtlinge weitgehend von der Hilfe aus. Die Bürger in Nuseybin haben Flüchtlinge aus Qamishli aufgenommen. Zum Teil bestehen verwandtschaftliche Beziehungen. Qamishli platzt aus allen Nähten, kurdische Flüchtlinge und Angehörige anderer Minderheiten haben sich in die Stadt geflüchtet, die damit völlig überfordert ist. Zweimal in der Woche konnten Spenden von Lebensmitteln und Medikamenten über die ansonsten geschlossene Grenze transportiert werden. Der Plan der türkischen Regierung, eine Mauer zu bauen, führt zu heftigen Protesten entlang der Grenze auf beiden Seiten.
Die Menschen in Rojava, im kurdisch besiedelten Teil von Syrien haben nach langer Unterdrückung seit einiger Zeit eine gewisse Autonomie zugestanden bekommen, die auch hier zu gesellschaftlichen Veränderungen geführt hat mit einer Stärkung und Beteiligung der Zivilgesellschaft. Im Krieg ist Rojava zum Zufluchtsort für andere Minderheiten geworden. Leider gibt es zunehmend Angriffe der islamischen Al Nusra Kämpfer und die Versorgungslage ist katastrophal.
In Südkurdistan boomt die Wirtschaft, der Wiederaufbau geht gut voran, doch die menschliche Dimension bleibt auf der Strecke. Die Clanstruktur ist noch sehr stark. Die Türkische Regierung agiert hier fast auf Augenhöhe mit Kurden, weil sie Handelspartner sind. Die kurdischen Exilpolitiker aus der Türkei haben es schwer. Sie werden zwar nicht ausgeliefert, haben nach jahrelangem Bemühen jetzt eine offizielle Vertretung in Erbil, sind aber in der Mehrzahl rechtlose Flüchtlinge. Das Verhältnis der Autonomieregion zur Zentralregierung in Bagdad ist sehr angespannt.
Auch in Iran sind die Kurden unter Druck. Die ganze Region des Nahen und Mittleren Ostens ist ein Pulverfass und droht in die Hände primitiver, fanatischer, gewalttätiger Islamisten zu geraten. Die Konferenz Genf 2 der UNO verschiebt sich immer weiter, weil die Vetomächte des Sicherheitsrats sich gegenseitig blockieren. Und selbst, wenn sie zustande kommt, werden die Betroffenen nur Zuschauer sein und zusehen, wie die Hegemonialmächte ihre Probleme lösen.
Die geplante pankurdische Konferenz in Erbil wird auch immer wieder verschoben, weil es zu viele unterschiedliche Bedingungen und Vorstellungen gibt. Ich bin gespannt, was Herr Demirtas von der Konferenz in Ankara berichtet.
IPPNW Deutschland und IANLANA, die Juristen für den Frieden, unterstützen den Vorschlag des iranisch stämmigen Friedensforschers Mohssen Masserat für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten – KSZMNO – nach dem Muster der KSZE, Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die für Europa nach dem 2.Weltkrieg die Weichen in eine friedliche Zukunft gestellt hat.
Die Grenzen in der Region sind von den früheren Besatzungsmächten willkürlich gezogen worden, die Nationalstaaten wurden erfunden, jahrhundertealte Traditionen und Beziehungen gekappt. Nur die Hegemonialmächte haben ein Interesse am Fortbestand der Konflikte, die ihnen den Zugriff zu Öl und Gas garantieren. Sie sollten bei einer KSZMNO nur Zuschauer und bestenfalls Garanten für einen sicheren Ablauf sein. Ein erstes Ziel ist die Errichtung einer Massenvernichtungswaffen – freien Zone. Ergebnis könnten föderale Lösungen sein, die an frühere Gemeinsamkeiten, an das Zusammenleben vieler Kulturen, Religionen und Völker anknüpfen.
Die Länder außerhalb der Region können den Prozess unterstützen. Dazu müssen sie zuerst die Waffenlieferungen stoppen. Im Mittleren und Nahen Osten gibt es längst mehr als genug davon. Sie müssen aufhören, einzelne Gruppen und Staaten zu dämonisieren, wie die Kurden oder den Iran. Sie können humanitär helfen, aber nicht mit dem heuchlerischen Verweis auf Menschenrechte und Demokratie sich kriegerisch einmischen. Länder, die Kriegsflüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen, haben jeden Anspruch auf moralische Überlegenheit verwirkt.
Bis zu einer solchen Konferenz ist es noch ein weiter Weg. Bis dahin gibt es viel kleine Schritte zu tun. Um den Friedensprozess in der Türkei zu unterstützen, sollte die Bundesregierung klar Stellung beziehen und endlich das PKK-Verbot aufheben. Sie sollte den politisch tätigen Kurden hier eine Plattform geben und Gespräche zwischen Türken und Kurden in Deutschland anstoßen, so wie wir es vergeblich im Dialogkreis um den Friedensforscher Andreas Buro und Memo Sahin immer wieder versucht haben. Visa-Erleichterungen für Reisende aus der Türkei und Förderung von Jugendaustausch und Städtepartnerschaften könnten weitere Schritte zum Abbau von Angst und Vorurteilen sein. Unsere müde und politikverdrossene Gesellschaft könnte vom Mut und der Ausdauer der Menschen in Kurdistan viel lernen.
Dr. med. Gisela Penteker
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