Fukushima – Zwischen Angst und Zuversicht

Anti-Atom-Proteste in Kouenji, Japan, April 2011. Foto: Matthias Lambrecht / https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Anti-Atom-Proteste in Kouenji ( Japan), April 2011. Foto: Matthias Lambrecht / creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Nun will die EU-Kommission offenbar die Atomkraft wieder verstärkt fördern wie am 17. Mai 2016 bekannt wurde! In Deutschland gibt es breiten Widerstand, aber in vielen unserer Nachbarländer und auch weltweit, sogar in Japan wird immer noch auf die Atomkraft gesetzt.

Einige Tage nach der Atomkatastrophe in Fukushima vom 11. März 2011 fand im ZDF eine Talkshow zur Frage des Atomausstiegs statt. Der Chef von EON, Johannes Teyssen, der Präsident des Bundesverbandes der Industrie (BDI) Keitel und der Bundesumweltminister Norbert Röttgen zeigten ihre Erschütterung und argumentierten, dass ein GAU dieses Ausmaßes nicht vorhersehbar gewesen sei. Risikoszenarien würden an Hand bisheriger Störfälle und Szenarien nach Wahrscheinlichkeit und einem “Sicherheitszuschlag“ berechnet. (Das wird übrigens bei den Gefahren durch Umweltgifte wie z.B. Glyphosat genauso gemacht bei der Berechnung von Grenzwerten.) Danach war ein Erdbeben der Stärke 8,9 wie in Japan in Verbindung mit einem Tsunami nicht vorgesehen und deshalb galten die AKW dort als „sicher“. Und die AKW anderswo auf der Welt gelten nach diesen Regeln immer noch ebenfalls als sicher.

Fukushima: Satellitenfoto der Reaktorblöcke 1 bis 4 am 16. März 2011, Digital Globe / CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Fukushima: Reaktorblöcke 1 bis 4, 16. März 2011, Digital Globe / CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Die beiden anderen Diskutanten, Renate Künast und der Leiter des Ökoinstituts Berlin bestätigten, sie seien auch von dem Unglück in Japan überrascht. Aber sie hätten schon bisher die Technologie der AKW für nicht beherrschbar gehalten und schon vorher den Ausstieg gefordert. Die Versicherungswirtschaft sei deshalb auch bisher schon nicht zu Versicherungen bereit gewesen, da ein tatsächlicher GAU nicht bezahlbar wäre und deshalb die Allgemeinheit dafür aufkommen müsste wie jetzt in Japan. Die Versicherungswirtschaft traut also den geschilderten „Sicherheitsberechnungen“ nicht.

Die ebenfalls  eingeladene Vorsitzende des Kinderhilfskomitees „Kinder von Tschernobyl“ schilderte die jetzt über Generationen hinausgehende stark reduzierte Lebenserwartung der verstrahlten Bevölkerung um Tschernobyl und die Auswirkungen auf das tägliche Leben, die sich immer noch vergrößern wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide. Andererseits gibt es auch „wissenschaftliche“ Berichte über eine relativ geringe Opferzahl z.B. nach Tschernobyl und nun auch über Fukushima, weil nur die unmittelbaren Todesfälle gezählt werden.

Fukushima mahnt, Foto: Michaela, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Fukushima mahnt, Foto: Michaela, creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Seither haben wir fast tägliche Diskussionen über die Gefahr und die Konsequenzen nach Fukushima. Die plötzliche Stilllegung von sieben Alt-AKW und eine historische Wahlniederlage der bisherigen AKW-Befürworter in Baden-Württemberg am 27. März 2011 belegen den Stimmungsumschwung in der deutschen Bevölkerung. Andere Länder jedoch wollen an der Atomkraft festhalten. Vielleicht ist durch die Erfahrung der beiden Weltkriege in Deutschland ein empfindlicheres Gefahrenbewusstsein im kollektiven Gedächtnis verankert.

Wie kann es zu so unterschiedlichen „Risikobewertungen“ kommen mit so unterschiedlichen Konsequenzen? Hier nur materielle oder Prestigegründe zu sehen, greift zu kurz, denn niemand wird vor einem offensichtlichen Abgrund für solche Motive sich in den Selbstmord stürzen. Also ist zu erklären, weshalb gar kein Abgrund gesehen wird. Es geht um die menschliche Fähigkeit der Gefahrenabschätzung. Unsere Sprache als Summe bisheriger geschichtlicher Erfahrung macht schon deutlich, dass es nur eine Abschätzung geben kann, ein Wort für ein gesichertes Wissen um eine „Gefahr“ gibt es nicht – eine „Gefahr“ bleibt eine Möglichkeit, die nicht mit naturgesetzlicher Gewissheit eintritt. Allenfalls können wir ein subjektives Gefahrenbewusstsein haben. Somit führt unser naturwissenschaftliches Weltbild uns möglicherweise in die Irre, wenn wir keine widerspruchsfreie Gewissheit über die Schädlichkeit eines menschlichen Verhaltens haben, sondern „nur“ von der Möglichkeit einer Gefährdung ausgehen.

Die biologische Ausstattung des Menschen ist auch hinsichtlich des Risikobewusstseins durch die Evolution der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit für seine natürliche Umgebung entstanden und darauf zugeschnitten, erweitert heute durch die technischen Hilfsmittel unserer Wahrnehmung. Die Beurteilung von Gefahren ist das Ergebnis komplexer Verknüpfungen solcher Wahrnehmungen mit früheren Erfahrungen, ganz wie es auch bei der Sicherheitsbewertung von AKW gemacht wird. Wir leben also nach Wahrscheinlichkeits-szenarien aufgrund unserer individuellen Erfahrungen, in die auch das kulturelle Gedächtnis mit einfließt.

Wir können Gefahren nur auf dem Hintergrund von Erfahrungen, also von entsprechenden Synapsenverbindungen im Gehirn, mit Wahrnehmungen assoziieren. Schon unsere Wahrnehmung ist begrenzt durch unseren Sinnesapparat, z.B. bei Radioaktivität, Klimawandel, Lebensmittelverseuchung oder auch schlichten Lügen. Kinder sind aufgrund mangelnder „Erfahrung“ besonders unfähig, Gefahren wahrzunehmen – den Gartenteich, die Straße. Die volle Ausreifung des für die Gefahrenabschätzung notwendigen frontalen Integrationszentrums im Gehirn, das die Gefahrenassoziation herstellen kann, erfolgt bei Frauen erst mit etwa 22 Jahren, bei Männern mit 25! Junge Männer sind deshalb die Altersgruppe mit der höchsten Unfallrate, der „jugendliche Leichtsinn“ durch unzureichende „Erfahrung“ ist sprichwörtlich.

Dieses frontale Integrationszentrum ist entwicklungsgeschichtlich ein junger Teil des Gehirns. Es ist daher beim Menschen unterschiedlich funktionsfähig ausgebildet. Bei etwa 5% der Bevölkerung ist eine mehr oder weniger deutliche Schwäche dieser Fähigkeit nachweisbar trotz normaler Intelligenz, bekannt geworden als „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“. Typisch sind für diese Menschen ein vermindertes Gefahrenbewusstsein mit Unfallhäufungen und sozialen Konflikten und eine mangelhafte Erfahrungssteuerung ihrer impulsiven Reaktionen.

Brain, Foto: dierk schaefer, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Brain, Foto: dierk schaefer, creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Auch mit dem ausgereiften Gehirn mit individuell immer noch unterschiedlicher Funktionalität des Frontalhirns sind wir auf die kulturellen Vorgaben und  die individuelle Aneignung und Erfahrung  angewiesen,  um unser Handeln nach den wahrscheinlichen Folgen auszurichten. Wahrnehmung und Erfahrung sind jedoch unvollkommen und irrtumsanfällig. Der Mensch kann das wie viele „soziale“ Tiere nicht allein bewältigen, er ist auf die gemeinsame Folgeneinschätzung angewiesen. Er ist genetisch auf Kooperation eingestellt und hat ein Gespür für die Abhängigkeit von der gemeinsamen Lebensgestaltung – von der ausgeprägten Bindung kleiner Kinder an die Eltern bis zum erwachsenen Sozialgefühl des „Zoon Politikon“.

Menschen mit geringer kultureller Erfahrung, d.h. Bildung, und deshalb unsicherer eigener Wahrnehmung von Strukturen, d.h. hinter dem Vordergrund wirkenden Bedingungen, schließen sich deshalb als erfahren angesehenen Führungsfiguren an. Aber auch bei guter Allgemeinbildung ist heute die Fähigkeit zur Erfassung der Wirkungszusammenhänge oft nur noch für Spezialisten gegeben. Und selbst sie sind sich oft nicht einig. In der Komplexität der Moderne sind es vor allem Wissenschaftler, aber auch Selbstsicherheit ausstrahlende politische Führungspersonen, an denen sich dann der Einzelne orientiert und deren begrenzten Einsichtsmöglichkeiten verdrängt. So erhielten sich in Nazi-Deutschland viele ihren Glauben an Hitler mit der Beruhigung „Wenn das der Führerwüsste“! Daraus resultieren Phänomene  wie Populismus, blindes Vertrauen, Loyalität zu Diktatoren, kurz das Problem des blinden Gehorsams wie es Milgram nachgewiesen hat.

Die Ursache für dieses Verhalten liegt anthropologisch in der Suche des Menschen nach seelischer Stabilität, d.h. Freiheit von Angst im Alltag, Freiheit von einer ständigen vegetativen Erregung mit Angst und Panik, um seine Lebenssituation als sicher zu erleben. Dafür verlässt er sich auf seine Wahrnehmung und seine soziale Geborgenheit in der beruhigenden Umgebung durch andere, ebenfalls Sicherheit vermittelnde Vertrauenspersonen, was früher einmal auch die Religion vermittelte und noch heute versucht.
Gefahrenerkenntnis kann diese Mauer des subjektiven Sicherheitsgefühls oft nur durchdringen aufgrund konkreter individueller Erfahrung wie in traumatischen Belastungserfahrungen oder durch kollektive Signale der Gefahr. Selbst dann sind Warnungen ohne Bestätigung durch die eigene Wahrnehmung oft noch schwer zu vermitteln.

Unsere Risikogesellschaft (Ulrich Beck 1986) lebt mit vielen Gefahren, die durch unsere moderne Industriegesellschaft erst entstanden sind und für uns nicht wahrnehmbar sind: Gefahren in industrieller Nahrung, Luft, Wasser, Klima, Atomenergie. Unsere Kultur der industriellen Naturvereinnahmung distanziert uns von unserem früheren kulturellen Wissen um die Unberechenbarkeit der Natur. Dazu kommen die individuellen Interessen des ungestörten Alltagslebens, der großen und kleinen Gewinne, die einen Widerstand gegen Gefahreneinsichten erzeugen. Unsicherheit der eigenen Wahrnehmung, Vertrauen zu Führungsfiguren und individueller momentaner Eigennutz („das macht keinen Spaß“) sind in der Risikogesellschaft eine irreführende Mischung komplexer menschlicher Antriebe.

Tsunami Hazard Zone, Foto: Harriv / CC BY-SA 3.0

Tsunami Hazard Zone, Foto: Harriv / CC BY-SA 3.0

So gibt es eine anthropologische Tendenz zur Gefahrenblindheit zwecks Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts. Die unterschiedlichen politischen Meinungen entstehen durch die unterschiedlichen Mischungen von Gefahrenwahrnehmung, Gefahrenblindheit und individuellen Interessen an einem ungestörten Leben wie bisher. Politisch geht es nicht mehr in erster Linie wie in der beginnenden industriellen Moderne um Arm und Reich, um Beherrschung und Ausbeutung, um Klassengegensätze, um links oder rechts, sondern um die Einschätzung der Risiken unserer industriellen Gefahrenpotentiale. Es geht darum, ob wir mit unserer naiven Zuversicht zu dumm sind zum Überleben (Konrad Lorenz 1988).

Muss man mit einem Erdbeben der Stärke 8,9 als Gefahr rechnen, kann ein Flugzeug oder ein Meteorit auf ein AKW fallen. Können wir den Atommüll sicher endlagern, können wir die Erderwärmung verkraften, ist die Verseuchung von Luft, Nahrung und Wasser mit Grenzwerten regelbar. Gibt es noch mehr Gefahren für die Ozonschicht als das verbotene FCKW – die Liste unserer industriellen Naturzerstörung ist lang, durch die wir uns der Unberechenbarkeit der Natur ausliefern.

Der evolutionäre Blick auf Überlebensfragen wie Atompolitk oder Klimapolitik zeigt dieselben Denkstrukturen wie z.B. im zwischenmenschlichen Streit zwischen getrennten Eltern um ihre Kinder, wenn die Gefahren für die Entwicklung der Kinder verdrängt werden. Beide Male geht es um eigene existentielle Sorgen und Ängste vor Gefahren, aber auch um Macht und Dominanz zum Erhalt vertrauter Lebensstrukturen. Bei den großen politischen wie den kleinen individuellen Themen sind immer einzelne Menschen Träger der Auseinandersetzung. Die aktuell immer noch zahlreichen öffentlichen Befürworter der Atomkraft mit Verweis auf die „Sicherheit“ von AKW zeigen mit ihrer Zuversicht die letztlich individuelle Verankerung der Argumentation in unseren anthropologischen Bedingungen. Das Argument von der Sicherheit beruht nicht auf der Erkenntnis eines „sicheren“ Naturgesetzes, sondern auf individuellen Denkstrukturen, die wir auch als „Glauben“ bezeichnen.
Somit sind die selbstsicheren, zuversichtlichen Apostel der Sicherheit von AKW eher unerfahrene Zauberlehrlinge, die uns zum Essen von giftigen Äpfeln verführen, giftig, weil nach dem Hochmut des Essens vom Baum des vermeintlichen Fortschritts der verdrängte Fall in die apokalyptische Nacht des Nichtseins droht. Oder ist das unser eigentliches Ziel?

In der politischen Auseinandersetzung wird es also ganz wesentlich darum gehen, ob Alternativen aufgezeigt werden, durch die das Sicherheitsgefühl wieder hergestellt oder aufrechterhalten werden kann. Bei der Atomkraft ist es der energische Ausbau der alternativen Energien, der z. Zt. nur nach der Methode der Echternacher Springprozession erfolgt, also einen Schritt zurück und vielleicht zwei Schritte vor.

Dr. med. Heyo Prahm – Nervenarzt, Kinder-und Jugendpsychiater und Psychotherapeut – ist Ehrenvorsitzender des „Oldenburger Vereins zur Förderung der Psychischen Gesundheit  e.V.“