Recht kurzfristig wurde ich zu einem internationalen Workshop mit dem Titel „Gesundheitsbedingungen in türkischen Gefängnissen“ am 6. Oktober 2024 nach Istanbul eingeladen. Als Mitglied der IPPNW-Gruppe „Menschenrechte Türkei“ kam mir die Einladung sehr gelegen, da ich immer öfter in den letzten zwei Jahren in den Menschenrechtsnachrichten aus der Türkei (HRFT / TIHV) las, dass die Haftzeit von Gefangenen von der Gefängnisverwaltung oft mehrfach willkürlich verlängert wird.
Ziel des Workshops war es, medizinische Expert*innen und internationale medizinische Organisationen für die Folter- und Misshandlungsbedingungen in türkischen Gefängnissen im Allgemeinen und die Isolationsbedingungen von Abdullah Öcalan und seinen drei Mitgefangenen auf der Gefängnisinsel Imrali im Besonderen zu sensibilisieren. Eingeladen hatte der Demokratische Kongress der Völker (HDK), ein Dachverband zivilgesellschaftlicher und politischer Organisationen in der Türkei.
Wir, ca. 50 internationale Teilnehmer*innen trafen uns in den Räumlichkeiten eines Hotels. Neben dem Parlamentarier Cengiz Çiçek von der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie DEM, dem türkischen Menschenrechtsverein IHD und u.a. dem Verein der Angehörigen von Gefangenen waren Ärzt*innen aus Deutschland, Italien, Frankreich anwesend. Auch die Presse war eingeladen.
Aus dem Bericht des IHD geht hervor, dass die Gefangenen, ihre Anwälte und Angehörige vor allem Folgendes anprangern: 36 % Misshandlung und Folter, 26 % Isolation und Verletzung des Rechts auf Kontakt, 13 % Verletzung des Rechts auf Gesundheitsversorgung und 11 % mangelnde Ernährung. Eine allgemeine aggressive, menschenfeindliche Haltung der Gefängnisadministration prägt die Stimmung.
Es gibt in der Türkei 403 Haftanstalten mit insgesamt 314.375 Gefangenen. Die Gefängnisse sind überbelegt, obwohl neue Gefängnisse gebaut werden. Die Hauptursache der anwachsenden Gefangenenzahl ist der ungelöste türkisch-kurdische Konflikt und neuerdings die Verfolgung der Gülen-Mitglieder, die die gesamte türkische Justiz zwingt, endlose und sinnlose Gerichtsverhandlungen zu führen. Das hatte auch zur Folge, dass es z.B. in den acht Monaten von September 2023 bis Mai 2024 zu einem Anstieg der Anzahl der Gefangenen um 78.050 kam, das sind 42 %. In manchen Gefängnissen müssen die Insassen auf dem Boden schlafen oder in Schichten. Die Überbelegung hat zur Folge, dass es zu wenige Wärter, in den Krankenstationen, zu wenig Pfleger und Ärzte gibt. Deshalb müssen Kranke oft Wochen bis Monate auf Behandlung warten. Die ärztlichen Untersuchungen, sogar gynäkologische, finden oft in Anwesenheit der Wärter in Handschellen statt.
Das für drei Häftlinge portionierten Essen müssen sich fünf Gefangene teilen. Die Qualität des Essens ist schlecht. Ebenso hat sich die hygienische Situation verschlechtert. Es gibt zu wenig sauberes Wasser oder auch heißes Wasser zum Duschen. Das Recht auf Ausgang in der frischen Luft und die Belüftung der Zellen ist eingeschränkt.
Die Haftsituation von Abdullah Öcalan und seinen drei Mitgefangenen auf Imrali ist ein Exempel für die Situation aller politischen Gefangenen in der Türkei. Öcalan ist seit 25 Jahren im Gefängnis und wird seit fast vier Jahren in legal verbotener, menschenrechtlich als weiße Folter geächteter Incommunicado-Isolationshaft gehalten, das heißt, er hat keinerlei Kontakt zur Außenwelt, weder zu seiner Familie noch zu seinen Anwälten. Wir wissen nicht, ob er noch lebt. Seine Wärter dürfen nicht mit ihm sprechen, er sitzt alleine in seiner Zelle, hat nur zweimal eine halbe Stunde pro Woche Ausgang im Gefängnishof. Er bekommt kein Papier, um z. B. Briefe zu schreiben und hat nur begrenzten Zugang zu Radio.
Die Mütter der Strafgefangenen mit weißen Kopftüchern sprachen auf Kurdisch und beklagten, dass sie Angst um ihre Angehörigen haben. Die Haftbedingungen Öcalans betrachten sie als Exempel für die Situation aller Gefangenen. Wenn ein Gefangener im Sarg aus dem Gefängnis getragen wird, was immer wieder wegen der mangelhaften Gesundheitsversorgung und Folter vorkommt, ist es ein großer Schmerz, dass sie sich zu Lebzeiten nicht von ihrem Kind verabschieden konnten und es fern von seiner Familie und allein sterben musste. Ebenso leiden sie an der gezielten Verlegung der Inhaftierten in weit entfernte Gefängnisse, da sie oft weder das Geld noch die Zeit haben ganze Tage für den Besuch ihres Angehörigen aufzubringen, der dann manchmal willkürlich vor den Gefängnistoren verhindert wird.
IHD beklagt auch, dass bei mehr als 500 Gefangenen, die ihre reguläre Strafe verbüßt haben, willkürlich die Freilassung mehrfach um Monate bis Jahre von der Gefängnisverwaltung und -beobachtungsbehörde İGK verschoben wurde mit der Begründung, sie hätten sich „nicht gut geführt“, weil sie das geforderte Reueformular nicht akzeptiert hatten. Konkret heißt das: Solange du dich weigerst zu unterschreiben, dass du bereust, wirst du nicht freigelassen. Für politische Gefangene, die aufgrund ihrer Meinung oder weil sie Kurd*innen sind, zu Mitgliedern einer terroristischen Vereinigung erklärt und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden, wäre eine solche Reue ein Verrat an ihren Werten und würde die im Gefängnis verlorenen Jahre für sinnlos erklären.
Die İGK ist ein Gremium aus dem Gefängnispersonal, die auf diese Weise die gerichtlich festgelegte Haftzeit ohne juristische Legitimation oft am Tag der vorgesehenen Entlassung verlängern kann. Dieses Vorgehen ist grausam und inakzeptabel.
Bei der Tagung hatte ich Gelegenheit, mit drei frisch entlassenen Gefangenen zu sprechen. Einer von ihnen, ein ruhiger, zurückhaltender Mann, ließ mich die ungeheure Ungerechtigkeit seiner Situation spüren: „Mit 18 Jahren wurde ich zu 36 Jahren Haft aus politischen Gründen verurteilt und kam mit knapp 50 Jahren raus“. Er hätte regulär, bei guter Führung höchstens 20 Jahre verbüßen müssen, was auch schon ungeheuerlich ist.
Der Workshop endete mit dem Wunsch der Beteiligten, die Stimme der Gefangenen über die Gefängnismauern herauszutragen, auf die Größe des Unrechts aufmerksam zu machen, die Verantwortlichen zu zwingen gegen Rechtsverstöße vorzugehen, die IGK ab zu schaffen, die einer parallelen Gerichtsbarkeit gleichkommt.
Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter CPT weigert sich bisher, ernsthafte Schritte gegen die Türkei zu unternehmen, obwohl beide dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet sind, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR die Türkei – leider ohne Konsequenz – mehrfach verurteilt hat. Damit missachtet das CPT die Werte der EU. Dieser unhaltbare Zustand veranlasste 69 Nobelpreisträger*innen in einem offenen Brief das Ministerkomitee des Europarats, den EGMR, das CPT und den Rechtsausschuss der Vereinten Nationen als Institutionen zur Überwachung der menschenrechtlichen Verantwortung von Staaten, wegen Mangel an sinnvollen Bemühungen zu kritisieren und zum Handeln auf zu fordern.
Diesen Oktober kamen tausende Kurd*innen trotz Verbot und großem Polizeieinsatz in Diyarbakir / Amed zusammen, um Freiheit für Abdullah Öcalan und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage zu fordern. Bei all diesem Unrecht ist der Wille des kurdischen Volkes, gewaltfrei weiterzumachen und Öcalans Idee des demokratischen Konföderalismus vorantreiben, ungebrochen.
Dr. med Neşmil Ghassemlou ist Psychotherapeutin und Palliativmedizinerin und Mitglied der IPPNW.
Vielen Dank Nesmil, dass Du überhaupt gefahren bist und uns nun diesen aufschlussreichen, allerdings auch schmerzlichen Bericht angefertigt hast. Mir läuft es kalt den Rücken runter und schäme mich, dass so wenig dagegen getan wird.Vor allem empört mich das Verhalten der CPT, die eigentlich Hüter der Europäischen Menschenrechtskonvention sein will. meine Frage nur: Was machen wir mit diesem Wissen? Wo setzen wir an? Darüber würde ich gerne weiter diskutieren. Elu