Istanbul-Diyarbakir
Zum Auftakt der IPPNW Delegationsreise 2012 gab es am vergangenen Samstag ein Treffen mit dem Politikwissenschaftler Ekrem Eddy Güzeldere, der in Istanbul für das Forschungsinstitut Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) arbeitet. Bei diesem bereits zum dritten Mal durchgeführten Treffen klang Herr Güzeldere, im Vergleich zu den vergangenen zwei Jahren, deutlich weniger optimistisch, was die Kurdenfrage und die mögliche Entwicklung der kommenden Monate anbetrifft.
Das Treffen im Altstadtviertel Kumkapi begann mit einer Einführung vor allem über die Entwicklung der vergangenen 12 Monate. Vor einem Jahr, mitten im Wahlkampf für die Parlamentswahlen vom Juni 2011, herrschte eine allgemein optimistische Atmosphäre, es gab kaum Gewalt und es gab Gespräche zwischen staatlichen Stellen und der kurdischen PKK. Für die Zeit nach den Wahlen wurde deshalb erwartet, dass es zu noch intensiveren Gesprächen kommt und die Arbeit an einer neuen Verfassung begonnen würde. Dies ist nicht eingetreten, im Gegenteil, nach den Wahlen hat die Gewalt zugenommen, Anschläge der PKK und militärische Operationen mit über 100 Toten nur seit dem Sommer.
Was die Situation noch erschwert, ist, dass es kaum eine Grundlage für einen Dialog gibt, in einer immer stärker polarisierten politischen Landschaft gibt. Güzeldere erklärt: „Die Verhaftungswelle gegen Mitglieder und angebliche Mitglieder der Dachorganisation KCK, die im April 2009 begann, wird unvermindert fortgesetzt. In diesen jetzt fast drei Jahren wurden über 7000 Personen in Gewahrsam genommen und über 1500 inhaftiert.“ Die rechtliche Grundlage für diese Verhaftungen sind Änderungen am Strafrecht (2004) und am Anti-Terror-Gesetz (2006). Beide Gesetze erweitern die Definition von Terrorismus und schaffen die Möglichkeit, auch Personen anzuklagen, die „Ziele einer illegalen Organisation verbreiten“ oder „Propaganda für eine illegale Organisation“. Vor allem für Journalisten sind diese Änderungen gefährliche Fallen, die gerne von der Justiz in Anspruch genommen werden.
„Propaganda kann einfach heißen, ein Interview mit einem Mitglied einer illegalen Organisation zu führen. Oder aber dem Aufruf zu einer Demonstration zu folgen, kann als ‘den Anweisungen einer illegalen Organisation folgen’ gedeutet werden. Danach können theoretisch alle Teilnehmer verhaftet werden. Was aber noch schlimmer ist als diese Gesetze, ist die absolut willkürliche Auslegung, was zu einer enormen Unsicherheit geführt hat“, erläuterte Güzeldere.
Für Güzeldere gibt es auch leider kaum Anzeichen, dass sich diese verfahrene Situation in der nahen Zukunft verbessern wird. Aber es ist nicht alles negativ, z.B. hat sich die größte Oppositionspartei CHP im letzten Jahr auch wieder der Kurdenfrage geöffnet mit einem neuen Vorsitzenden und auch neuen kurdischen Abgeordneten, die sich um das Thema bemühen.
Auch wenn es bei der Kurdenfrage keine Fortschritte gibt, ist es nicht so, dass es überall Stillstand gibt. „Die rechtliche Situation der nicht-muslimischen Minderheiten hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert und die Umsetzung dieser Gesetzesänderungen findet bis heute statt. Konfisziertes Eigentum wurde zurückgegeben und die Situation der Minderheitenschulen verbessert. Aber auch die Diskussion über ehemalige Tabus wie den armenischen Genozid oder die Massaker 1937/38 in Dersim, ist in vollem Gange“, so Güzeldere.
Als die IPPNW Delegationsreise vor zwei Jahren den Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, getroffen hatte, sprach dieser vom Völkermord der Kurden mit den Türken an den Armeniern und anderen Minderheiten und bedauerte dies sehr. Er wollte Diyarbakir wieder zu einer multiethnischen Stadt machen. Wie beim Hinflug in die Türkei aber deutlich wurde, ist es noch ein weiter Weg, bis diese neue Erkenntnis eine Mehrheit findet. Bei Gesprächen mit Mitreisenden wurde deutlich, dass die herrschende Staatsideologie noch dominiert, nach der es keinen Völkermord gab.
Die Türkei bietet also ein ambivalentes Bild zwischen Stillstand und weitergehender Demokratisierung. Im Vergleich zu vergangenen Jahren spielt in diesem Transformationsprozess die EU eine immer weniger wichtige Rolle. Die EU und Politiker aus EU Mitgliedstaaten, Deutschland eingeschlossen, sind nicht mehr so präsent in der türkischen Debatte. Dies hat aber nicht unbedingt eine Neuorientierung der Türkei zur Folge, die verbesserten Beziehungen zu den südlichen Nachbarn stellte eher eine Normalisierung der Beziehungen dar als eine Ostorientierung. Nach den Unruhen in den arabischen Nachbarstaaten hat die Türkei auch gesehen, wie begrenzt ihre Möglichkeiten sind, wirklich Einfluss auf die Regime zu nehmen, es ist eben doch ein großer Unterschied zwischen soft und hard power.
Ein großes Fragezeichen sowohl für die Innen- als auch für die Außenpolitik ist der Gesundheitszustand des Ministerpräsidenten Erdogan, der nach zwei Operationen deutlich geschwächt erscheint. Dies scheinen politische Gegner vor allem aus dem konservativ-religiösen Lager zum Anlass zu nehmen, sowohl Erdogan als auch die AKP verstärkt zu kritisieren und anzugreifen. Dieser zusätzliche Machtkampf macht politische Reformen nicht einfacher. Trotz all dieser eher pessimistischen Einschätzungen muss es so ja nicht unbedingt kommen, wie Güzeldere klarstellt: „Ich hoffe, dass ich bei meinen Einschätzungen in diesem Jahr so daneben liege wie bei meinen eher optimistischen Einschätzungen in den vergangenen Jahren.“
Die IPPNW Delegationsreise flog am Montag weiter nach Diyarbakir und besucht bis 30. März die Städte Dersim, Sirnak, Hakkari und Van und hat zahlreiche Treffen mit Menschenrechtlern, Journalisten, Ärzten und Politikern.
Helmut Käss ist IPPNW-Mitglied, Arzt und Teilnehmer der Türkei-Delegationsreise 2012
Fotos der Reise auf Flickr