Luftholen zwischen Machtdemonstrationen und Trümmerfeldern

Jahrestreffen der Ärztekammer Diyarbakir mit Verleihung des Friedenspreises

Jahrestreffen der Ärztekammer Diyarbakir mit Verleihung des Friedenspreises. Foto © IPPNW.

17. März 2018: „Weiter mit dem feierlichen Marsch!“ ist der Slogan unter dem Erdogan heute in Diyarbakir sprechen wird. Porträts, AKP Wimpel und die massive Staatsbeflaggung an Einfahrtstraßen und öffentlichen Gebäuden hängen schon seit ein paar Tagen. Oppositionelle Kundmachungen sind nicht erkennbar. Es gibt keine kurdischen Fahnen, keine öffentlichen politischen Parolen oder auch nur demonstrative kurdische Farben. Die früher verbreiteten Newroz Plakate sind verschwunden. Wir verstehen jetzt, die Erwiderung unserer HDP und BDP Gesprächspartner am Ankunftstag auf unseren ersten Eindruck eines ruhigen und normalen Stadtlebens: Es darf nicht mehr demonstriert werden, nur die Regierung darf das.

Auch, wenn das Geschäfts- und Alltagsleben äußerlich diesen ruhigen Eindruck macht, ist der Unterschied zu Newroz 2015 riesengroß.

Da die zerstörten Bezirke Surs unzugänglich sind, war uns der etwas erhöhte Bezirk der historischen inneren Burg „Ic Kale“ aus Aussichtspunkt empfohlen worden. Alte Gefängnisse und Museen sind hier inzwischen restauriert. Wo früher ärmliche Hütten standen und auch die Zugangsstraße wenig ausgebaut war, eröffnet sich jetzt eine einladende Parkanlage mit weitem Ausblick auf das Tigris Tal und die Hevsel-Gärten (Unesco Weltkurlturerbe). Alle Besucher*innen passieren am Eingangstor eine Polizeikontrolle.

Es ist sofort klar, dass der Aufstieg zur alten Stadtmauer, die uns jetzt nur noch von Sur trennt, an jeder einzelnen der vielen Steintreppen auf ganzer Strecke durch Polizeigitter versperrt ist. Nach einem Rundgang, zeigen sich aber plötzlich junge Menschen und Spaziergänger oben auf der Mauer. Durch eine Lücke in der Absperrung gelangen auch wir nach oben. Der Eindruck ist niederschmetternd: soweit das Auge reicht, nichts als ein abgeräumtes Trümmerfeld. Auf weiter Strecke stehen nicht einmal mehr Grundmauern. Verloren zurückgeblieben sind zwei kleine Stadtteilmoscheen und ein überwucherter Mini-Friedhof. Die ehemals große armenische Kirche können wir nicht erkennen. Von der Soorp Sarkis-Kirche, einem Symbol der Stadt auf alten Fotos und Silhouetten, ist nur noch der zerschossene Kirchturm erkennbar.

Die Straße vor unserem Hotel ist blitzeblank gefegt. Die Schuhputzer an der Ecke haben ihre Stände ab – und Fernseher aufgebaut. Vor unserem Hotel zieht eine kleine Gruppe mit AKP Fahnen entlang. Einige Kinderstimmen rufen aus der Nähe „Biyi Serok Apo“ (es lebe unser Führer Apo – gemeint ist Öcalan). Der Demonstrationszug reagiert aber nicht.

Die zentrale Kreuzung für Autoverkehr und jede einzelne der vielen Seitengassen sogar für Fußgänger*innen gesperrt. Wir vermuten zunächst, dass Herr Erdogan die innere Burg besuchen könnte. Inzwischen ist es Mittag und weitflächig werden nach für uns nicht erklärbarer Auswahl parkende PKW abgeschleppt. Helikopter kreisen über der Stadt. Im Touristenbüro erfahren wir, dass das Stadion in dem der Präsident seine Rede halten wird, weit außerhalb der Altstadt liegt.

Bei der massiven Polizeipräsenz und all den Behinderungen handele es sich lediglich um eine der üblichen Machtdemonstrationen. Durch die Behinderungen sei es an dieser Kreuzung heute Morgen schon zu drei Verkehrsunfällen gekommen.

Das Tagungshotel der Ärztekammer liegt zwischen Hotel und Burg. Wir erreichen es gut zu Fuß. Im Vorraum zum Saal treffen wir auf bekannte Gesichter von Ärztekammer, Anwaltskammer, den Gewerkschaften und Parteien. Wir werden herzlich begrüßt. Im Gespräch wird betont, dieses Kammertreffen diene dem Austausch mit den Gruppen der Zivilgesellschaft. Auch um sich gegenseitig Mut zu machen.

Der festliche Saal ist mit dem Logo der Kammer geschmückt: auf kurdisch und mit dem alten Namen Diyarbakirs – Amed. Diese Zeichen hier so öffentlich auszuhängen ist mutig.

Nach einer Begrüßung auf kurdisch und türkisch durch die Doppelspitze der Tagungsleitung gibt es vom Podium drei Reden zur sozialen und politischen Situation in der Region rund um Mardin.

Vor der Friedenspreis Verleihung verdunkelt sich der Raum. Nach einem Kurzfilm aus historischen Aufnahmen von schweren Gewalteinsätzen, Verhaftungen und Kriegsszenen in der Region, beginnend in den 80er Jahren, folgen still die Porträts aller Friedenspreisträger*innen seit 2001. Sie enden mit Asli Erdogan in 2017. Gemeinsam im verdunkelten Raum den Film zu sehen, wirkt wie ein Stück kollektive Trauerarbeit.

Zweimal wird geklatscht. Zuletzt beim Porträt Tahir Elcis, dem ermordeteten Präsident der Anwaltskammer und Friedenspreisträger von 2015.

Die Kammer ehrt danach einige Absolventen von Fachprüfungen. Danach folgt die Verleihung von Friedensplaketten an Repräsentant*innen der zivilen Organisationen. Hierunter ist auch unsere Gruppe um Gisela Penteker. Wir dürfen gemeinsam und mit unserem IPPNW-Banner aufs Podium.

Am Ende wird Herr Professor Dr. Bicer für sein Lebenwerk geehrt. Seine Verhaftung liegt noch nicht lange zurück. Aus seiner Rede konnten wir leider nur mitnehmen, dass er aktuelle soziale und politische Themen besprochen hat.

Wir lesen im Internet die aktuellen Nachrichten von der Bombardierung des Krankenhauses und der bevorstehenden Einnahme Afrins. Seymus Gökde erklärt uns, dass die Bomber nach Afrin vom hiesigen Flughafen starten und wie dies die Leute hier fertigmacht. Dennoch werden nach dem Essen der kurdische Kreistanz Halay getanzt.

Wir begreifen, dass heute mehr passiert ist, als ein internes Kammertreffen: hier begegnen sich Genoss*innen, Freund*innen, Kolleg*innen. Dieses Treffen ist mitten in einer Zeit der Repression eine politische Organisationsform. Hier kann politische Arbeit passieren, es wird kein Blatt vor den Mund genommen, die Menschen begegnen sich herzlich und wertschätzend. Nach dem Film ist es, als wären auch die Inhaftierten und Ermordeten anwesend. Uns erscheint der heutige Tag für die Anwesenden wie ein geschützter Raum, ein Moment zum Luftholen.

Dr. Gisela Penteker ist IPPNW-Mitglied und Türkei-Beauftragte.