Niemand will in einer Diktatur leben

Flaggen am Taksim in Istanbul, 2013. Foto: David/CC BY-NC-ND 2.0

Flaggen am Taksim in Istanbul, 2013. Foto: David/CC BY-NC-ND 2.0

Gespräch mit Öztürk Türkdogan, dem Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins in Ankara am 23. April 2021

Vor wenigen Tagen hat Öztürk Türkdogan eine Razzia in seinem Haus erlebt und wartet auf die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft. Die Lage für Oppositionelle und der Menschenrechtler in der Türkei sei bedrohlich. Vor 20 Jahren habe man sie ermordet, heute überziehe man sie mit Gerichtsverfahren und stecke sie ins Gefängnis.

Tahir_Elçi, Präsident der Rechtsanwaltskammer Diyarbakır, ermordet im November 2015

Tahir Elçi, Präsident der Rechtsanwaltskammer Diyarbakır, wurde im November 2015 ermordet.

Auch Morde kommen wieder vor, wie der an dem Präsidenten der Anwaltskammer Diyarbakir Tahir Elçi. Eine Aufklärung der Todesumstände oder gar eine Bestrafung des Schützen sei nicht zu erwarten. Solange die fundamentalen Probleme der Türkei nicht gelöst werden, könne es keine Gerechtigkeit geben, so Türkdogan.

Der 23. April ist in der Türkei ein Nationalfeiertag: Vor 101 Jahren trat die Große Nationalversammlung erstmals zusammen. Damals waren dort alle Volksgruppen vertreten, bis auf die Armenier, die zuvor ermordet worden waren. Später kam es zu einer massiven Assimilierungspolitik, die besonders die Kurden betraf und betrifft. Viele kurdische Politiker sind im Gefängnis. Darauf sollten sich die europäischen Freunde fokussieren. Die Lösung der Kurdenfrage ist der Schlüssel zum Frieden.

Am 24. April, ist der Jahrestag des Genozids an den Armeniern. Die türkische Regierung verfolgt weiterhin alle, die den Genozid als solchen bezeichnen. Gegen die Anwaltskammer Diyarbakir läuft deshalb eine Anklage. Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, hat den US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden davor gewarnt, an diesem Tag das Wort „Genozid“ zu benutzen. Alle Parteien außer der HDP leben von der türkischen Ideologie, die sich am sunnitischen Islam orientiert. Die europäischen Länder haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihrer Geschichte bekannt und in Demokratien verwandelt – in der Türkei ist das nicht passiert. Die ideologischen Hürden verhindern eine positive Entwicklung. Über die wirklich beunruhigende Menschenrechtslage könnten wir uns auf ihrer englischsprachigen Website genauer informieren.

Als Signal an Europa und die Welt hat Präsident Erdogan im März seinen Menschenrechts-Aktionsplan verkündet. Im März ist er aus der Istanbul-Konvention ausgetreten, im März hat er das Verbotsverfahren gegen die HDP eingeleitet und im März hat er das Parlamentsmitglied Ömer Faruk Gergerlioğlu verhaften und inhaftieren lassen. Eren Keskin, die langjährige Kovorsitzende des IHD wurde zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil sie sich an der Solidaritätsaktion für die inzwischen verbotene Zeitung Özgür Gündem beteiligt hatte. Erstmals hat ein türkisches Gericht gesagt: „Die Türkei braucht ihre eigenen nationalen und lokalen Menschenrechte“. Als ob es so etwas wie lokale Menschenrechte geben könnte! Eren Keskin ist zu insgesamt 26 Jahren Gefängnis verurteilt. Die meisten Verfahren sind noch in der Berufung. Eine Verurteilung zu drei Jahren Haft sei jetzt beim Kassationsgericht und damit bestehe die Gefahr, dass sie wirklich ins Gefängnis müsse.

Früher hätte man vom Tiefen Staat gesprochen – doch dieser Tiefe Staat sei jetzt offen an der Oberfläche. Die Türkei wolle weiter Mitglied der Europäischen Union werden, obwohl sie die Kopenhagener Kriterien vollständig ignoriere. Besonders Deutschland unterstütze die türkische Regierung weiterhin, wie es auch Donald Trump getan hat. Unsere Gesprächspartner bitten die deutschen Freunde, das klar zu sehen. Ohne die deutsche Unterstützung könnte die Türkei ihre Politik so nicht fortsetzen. Die Regierung muss aus Europa klar aufgefordert werden, die derzeitige Politik zu beenden. „Wir als Menschenrechtler brauchen eine starke Unterstützung aus Europa.“ Die politische Opposition in der Türkei sei stark, auch wenn sich das nicht in Parteien widerspiegele. Es seien die Graswurzelbewegungen, die Menschen, die die Kurdenfrage lösen und Frieden haben wollten.

Die oppositionellen Gruppen arbeiten auf vorgezogene Wahlen hin, weil es so nicht noch zwei Jahre weitergehen darf. Die Wirtschaft liegt darnieder, Armut und Arbeitslosigkeit wachsen, die Unterdrückung nimmt immer weiter zu. Die offiziellen Zahlen seien gefälscht, es gebe viel Korruption. Es scheint, als ob die Mafia das Land übernommen hätte. Dies sei eine Diktatur und niemand wolle in einer Diktatur leben. Als Beispiel nennt er die Statistik zu Covid-19: die Türkei hätte die höchste Rate an Erkrankungen, aber die geringste Sterberate. Wer solle das glauben? Die Arbeitslosigkeit werde offiziell mit 13 Prozent angegeben. Gleichzeitig heiße es, 29 Prozent der Menschen hätten es aufgegeben, Arbeit zu suchen.

Die Türkei befindet sich im Krieg gegen die Kurden. Sie braucht in erster Linie Frieden. Die Isolation von Abdullah Öcalan spielt in diesem Prozess eine große Rolle, die in Deutschland und Europa mehr diskutiert werden müsse. Die Antifolterkommission CPT hätte zwar Empfehlungen gegeben, die aber nicht umgesetzt würden. Die türkische Regierung möchte, dass der Krieg weiter geht. Wir müssen die Menschen in Deutschland und Europa auf die Rechtsverletzungen hinweisen und daran arbeiten, die Isolation und Haft Öcalans und anderer politischer Gefangener zu beenden. Auf unseren Hinweis auf die Kampagnen „Free Öcalan“ und „PKK-Verbot aufheben“ rät er, keine Maximalforderungen zu stellen, sondern Schritt für Schritt Bewusstsein zu schaffen. Öcalan könne nur freikommen, wenn Frieden erreicht sei.

Nach ihren Informationen konnte Öcalan vor einem Monat kurz mit seinem Bruder telefonieren. Als er dabei an seine Rechte erinnerte, wurde die Verbindung unterbrochen. Gefangene haben auch in der Türkei Rechte. Aber die Regierung hält sich nicht an ihre eigenen Rechte und Gesetze.

In der Kurdenfrage habe sich die Ablehnung in der Opposition gewandelt, seit die Kurden in Rojava den IS bekämpft und besiegt hätten. Dabei sei klar geworden, dass es nicht nur um die Kurden in der Türkei sondern auch in Syrien, Irak und Iran gehe. Hier würden jetzt mutige und entschlossene Politiker*innen gebraucht. Ob Biden da eine Hoffnung sein könnte, könne man noch nicht beurteilen. Von der deutschen Politik erwarten sie nichts. Er berichtet von seinen Verwandten in Deutschland, die dort nie richtig angekommen seien und immer noch türkisches Fernsehen einschalten würden. Wenn Frieden wäre, würden sicher viele in die Türkei zurückkehren. Deutschland scheine Angst zu haben, dass dann Tausende nach Europa drängen würden. Diese Gefahr sehe er nicht, auch die Rückkehrstatistiken der letzten Jahre sprächen dagegen, meint Türkdogan.

Zum Schluss bitten wir Öztürk Türkdogan, uns über laufende Prozesse zu informieren, bei denen Unterstützung wünschenswert ist. Wir können Briefe schreiben und auch zur Prozessbeobachtung kommen, wenn  die türkischen Initiativen das für sinnvoll halten.

Gisela Penteker ist Leiterin der IPPNW-Reisen in die Südost-Türkei