Was können Prozessbeobachtungen in der Türkei bewirken?

Bei IHD in Diyarbakir, März 2022. Foto: IPPNW

In den letzten Jahren sind wir immer wieder einmal zu Prozessbeobachtungen in die Türkei gefahren. Auch auf unseren Delegationsreisen hatten wir ab und zu die Gelegenheit, an Prozessen von Menschenrechsaktivist*innen teilzunehmen. Auf der diesjährigen Reise wurden wir in Diyarbakir mit dem Prozess gegen einen Menschenrechtsverteidiger des IHD konfrontiert. Firat Akdeniz ist Mitglied des Menschenrechtsvereins IHD und setzte sich besonders gegen das Verschwinden von Personen sowie gegen die Straffreiheit von nachgewiesenen Mordfällen an politisch Aktiven ein. Er ist gleichzeitig Mitglied der Erziehungsgewerkschaft und hat sich auch hier für Menschenrechte engagiert.

Wegen dieses Einsatzes wird ihm der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation nach Artikel 314/2 des Strafgesetzbuches der Türkei gemacht. Konkret wird ihm die Teilnahme an 17 verschiedenen Versammlungen des IHD, z.B. am Antikriegstag am 1. September 2019 oder am kurdischen Sprachfestival in Diyabakir 2020 oder religiösen Gedenkfeiern vorgeworfen. Ein weiterer Vorwurf lautet, er habe sich öffentlich zur Gewalt an und zur Ermordungen von Frauen geäußert, haben, Veröffentlichungen zum Hungerstreik von Gefangenen und zu willkürlichen Verhaftungen getätigt und sich gegen die Immunitätsaufhebung von HDP-Abgeordneten gewandt. Ebenfalls soll er gegen die Zwangsverwaltung protestiert haben. Alle diese Meinungsäußerungen werden willkürlich als Unterstützung der PKK interpretiert.

Am 24. Mai 2021 wurde er bei einer Hausdurchsuchung verhaftet und bis zum 8. September in Untersuchungshaft genommen. Am 23. März war nun nach drei weiteren Gerichtsterminen der letzte Verhandlungstag angesetzt. Beim Besuch des IHD in Diyarbakir zwei Tage vorher wurden wir gebeten, als internationale Beobachter an dem Prozess teilzunehmen.

Der Verhandlungstag war nur kurz: Während der Verlesung der Verteidigungsschrift durch einen der sieben anwesenden Anwälte erschienen plötzlich Polizisten in Zivil im Zuschauerraum. Das ist auch nach türkischem Gesetz verboten. Ob sie wegen unserer internationalen Beobachtung kurzfristig dorthin beordert wurden, blieb unklar. Auf  Aufforderung der Anwälte verwies allerdings der Vorsitzende des dreiköpfigen Richtergremiums die Polizei des Raumes. Zur Urteilsverkündigung mussten wir, die Anwälte, die Unterstützer von Firat (Firat Akdeniz ist  der Gerichtsverhandlung vorsorglich ferngeblieben) und ich als internationaler Beobachter für die IPPNW draußen vor der Tür warten. Für mich warsehr befremdlich

, dass das Urteil nur schriftlich rausgereicht wurde und keine persönliche Verkündung durch den Richter stattfand. Das Resultat: eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren und drei Monaten. Der einzige Lichtblick: Bis zur Berufungsverhandlung vor dem nächsthöheren Gericht bleibt Firat Akdeniz auf freien Fuß. Dieses Urteil richtet sich nicht nur gegen den Angeklagten, sondern ist als Kriminalisierung der Menschenrechtsarbeit des IHD zu werten. Es soll offensichtlich zur Vorbereitung eines Verbotes dieser Menschenrechtsorganisation dienen.

Auch wenn an diesem Beispiel wieder deutlich wird, dass wir als internationale Prozessbeobachter*innen nur selten Einfluss auf konkrete Ergebnisse nehmen können, ist für die Betroffenen unsere Anwesenheit sehr wertvoll. Auch in diesem Fall haben sie betont, wie wichtig die physische Anwesenheit von internationaler Seite für sie zur Ermutigung und Stärkung ihres Kampfes um Gerechtigkeit ist, gibt es ihnen doch das Gefühl, nicht vergessen und auf verloren Posten zu sein. Wir haben vereinbart, dass sie uns frühzeitig den Termin für die nächsten Verhandlungen mitteilen. Neben der physischen Beobachtung sind weiterhin Briefe an die Gerichte notwendig – damit de Richter sich dessen bewusst werden, dass sie unter der Beobachtung der internationalen Menschenrechtsbewegung stehen. Nur so kann, wenn auch nur in Einzelfällen wie damals bei dem Arzt Serdar Küni, Einfluss auch auf Entscheidungen höherer Gerichte genommen werden.

In Deutschland sind wir nur eine kleine Gruppe von Beobachter*innen, die in die Türkei zu Gerichtsprozessen fahren. Wir könnten durchaus noch mehr Menschen gebrauchen. Für uns ist die Teilnahme an solchen Prozessen insofern wertvoll, als wir noch einmal einen ganz anderen physischen Eindruck von der komplexen und vielschichtigen Repressionsgewalt gewinnen. Der persönliche Kontakt ist hier wichtig, die abstrakten Fakten ermüden manchmal. Konkrete Personen zu unterstützen und deren Schicksal intensiver weiterzuverfolgen, macht die Arbeit und die Einsicht in die konkrete Situation einfacher und nachhaltiger. Wir werden so konkret Zeug*innen und können diese Zeugenschaft als Gewicht in die politische Diskussion werfen. Von daher würden wir uns freuen, wenn sich inner- und außerhalb der IPPNW Menschen bereiterklären, ein oder zwei Prozesse jährlich zu besuchen, darüber zu berichten und die konkreten Schicksale weiter zu verfolgen. Bitte melden unter:
iskenius (at) ippnw.de

Ernst-Ludwig Iskenius ist IPPNW-Mitglied und reiste im März 2022 in die Südosttürkei.