Zweiter Prozesstag: Das Verfahren gegen Dr. med. Serdar Küni in Sirnak

Mitglieder der Menschenrechtsstiftung protestieren gegen die Inhaftierung Serdar Künis, April 2017. Foto: Sendika.org/Twitter

Mitglieder der Menschenrechtsstiftung protestieren gegen die Inhaftierung Dr. Serdar Künis, April 2017. Foto: Sendika.org/Twitter

Während der 80-tägigen Ausgangssperre zu Beginn des Jahres 2016 hat Dr. Serdar Küni als Arzt im Gesundheitszentrum Cizre in der Südost-Türkei gewirkt. Dort versorgte er Verwundete medizinisch, ohne ihre Namen an die militärischen Stellen weiterzuleiten. Dieses Verhalten wirft man ihm nun als „Unterstützung von Terroristen“ vor. Am 19. Oktober 2016 wurde er verhaftet und des Terrorismus angeklagt. Dr. Serdar Küni war als Präsident der dortigen Ärztekammer und Repräsentant der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) sehr bekannt und beliebt. Der erste Prozesstag endete mit der Fortsetzung seiner Haft (siehe gemeinsame Presseerklärung von IPPNW und Connection e.V vom 14. März und meinen Prozessbericht vom 17. März 2017).

Internationale Solidarität

Dr. Serdar Küni. Foto: TIHV

Dr. Serdar Küni. Foto: TIHV

Zum zweiten Prozesstag am 24. April 2017 hatte der Weltärztebund die nationalen und internationalen Ärzteorganisationen zur Unterstützung von Dr. Serdar Küni aufgerufen, um seine bedingungslose Freilassung und Freisprechung von diesem absurden Vorwurf zu erreichen. So nahm ich als Vertreter der deutschen IPPNW und in Absprache mit der Bundesärztekammer abermals an diesem Prozess als internationaler Beobachter teil. Daneben fanden sich noch VertreterInnen des Red Cross Center for Tortured Refugees Stockholm, des Norwegian Helsinki Committee, der Physicians for Human Rights USA, von REDRESS aus Großbritannien, War Resisters International aus Spanien und des Demokratischen Türkei-Forums aus Deutschland sowie der Europäischen IPPNW ein. Abermals waren zahlreiche UnterstützerInnen aus der Region und der ganzen Türkei in Solidarität mit Dr. Serdar Küni zu diesem Prozess gekommen  – unter anderem auch eine Vertreterin der türkischen Ärztekammer aus Ankara.

Organisation

Wie bei all den Prozessen in Sirnak und Istanbul vorher wurden wir in hervorragender Weise von der Menschenrechtsstiftung der Türkei begleitet und betreut. Sicherheitsprobleme gab es keine – sieht man von der Überprüfung unserer Papiere an verschiedenen Checkpoints einmal ab.

Am Tag vor dem Prozess wurden wir noch zur gegenwärtigen Situation informiert, besuchten das Zentrum der Menschenrechtsstiftung in Cizre, das von Herr Dr. Küni gegründet und geleitet wurde. Auch seiner Familie, die große Hoffnung auf unsere Anwesenheit als internationale Vertreter setzte und sich für unser Kommen herzlich bedankte, statten wir einen Besuch ab. Für sie war es ermutigend, dass wir aus vielen anderen Ländern abermals angereist waren. Viele Personen der weit verzweigten Familie. Unter anderem nahmen auch seine 16-jährigen und 18-jährigen Töchter an dem Prozess teil.

Sirnak, die verwundete Stadt

Bevor wir am 24. April den Prozess beobachten, fuhren wir gemeinsam in einem Bus durch die Stadt Sirnak. Riesige Flächen der damals zerstörten Stadtteile sind nun eingeebnet, der Schutt zum größten Teil schon weggefahren, die Flächen vom staatlich eingesetzten Verwalter konfisziert. Die vormaligen BewohnerInnen der plattgemachten Häuser sind zum größten Teil vertrieben und mussten bei Verwandten in der ganzen Türkei unterkommen. Viele haben ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Kompensationen wurden nach den Worten unserer Begleiter bisher nur in den seltensten Fällen bezahlt.

TOKI-Bauprojekt in der kurdischen Stadt Mardin. Foto: IPPNW, März 2016

TOKI-Bauprojekt in der kurdischen Stadt Mardin. Foto: IPPNW, März 2016

Das äußere Bild dieser Stadt hat sich völlig verändert, das alte soziale Gefüge ist völlig zerstört Ein riesiges Schild auf einer der freigewordenen Flächen verkündete, dass hier die „neue und glückliche Türkei“ entstünde, unterzeichnet von TOKI, der staatlichen Baufirma, die vor allem dem Präsidenten Erdogan nahestehende Baufirmen beauftragt. Somit werden alle Beweise, die auf die willkürliche Zerstörung der Stadtteile und die Verbrechen an den Menschen dort hinweisen könnten, eingeebnet und damit öffentlich vergessen gemacht.

Prozessverlauf

Mit zweistündiger Verspätung begann der Prozess in dem schon vertrauten Gerichtsaal, der mit BeobachterInnen völlig überfüllt war. Eine Vertreterin der Menschenrechtsstiftung übersertze wichtige Passagen der Verhandlung ins Englische. Die Verteidigung von Serdar Küni, die aus sechs Rechtsanwälten bestand, erinnerte noch einmal daran, dass die bisherigen Zeugen die Vorwürfe des Staatsanwaltes entkräftet hätten und die beim ersten Prozesstag widerrufenen Aussagen unter Gewalt und Folter erzwungen worden seien. Der Einwand des Gerichtes, aus den medizinischen Unterlagen über die Zeugen seien keine Hinweise auf physische Gewalt und Folter an den Zeugen zu entnehmen, wurden durch einen erfahrenen Gerichtsmediziner aus Istanbul fachlich widerlegt. Die herangezogenen medizinischen Unterlagen wurden für völlig unzureichend befunden. Die Verteidigung forderte daraufhin, dass diese Personen von unabhängigen Ärzten noch einmal untersucht werden sollten. Auf jeden Fall spreche bisher nichts dagegen, dass ihre Widerrufe der Wahrheit entsprächen. Deshalb lägen keine weiteren Beweise für die Vorwürfe vor, die Herrn Dr. Küni gemacht würden.

Cizre 2016. Foto: IPPNW

Cizre 2016. Foto: IPPNW

Daraufhin verlas der Staatsanwalt eine Erklärung eines neuen anonymen, nicht anwesenden Zeugen, der allerdings weder vom Gericht, noch von den Rechtsanwälten befragt werden konnte. Seine Identität wurde nicht freigegeben. Die darin gemachten Aussagen bezogen sich auf Vorgänge, die 2012, also weit vor dem zeitlichen Rahmen, der in diesem Prozess verhandelt wurde, angeblich beobachtet worden seien. Selbst das Gericht äußerte Zweifel, ob durch diese einzig noch verbliebene Zeugenaussage die Vorwürfe gegen Serdar Küni aufrecht erhalten werden könnten. Trotzdem verurteilte das aus drei Richtern bestehende Gremium Serdar Küni zu vier Jahren und zwei Monaten Gefängnisstrafe, die allerdings zunächst nicht angetreten werden brauchte, weil dieses Urteil noch nicht rechtskräftig wurde und das Gericht davon ausging, dass die Verteidigung in Revision gehen würde. Somit kam als „Trostpflaster“ Dr. Serdar Küni noch an diesem Abend frei und konnte zu seiner Familie nach Cizre zurückkehren.

Nach dem Prozess fuhren alle UnterstützerInnen zunächst nach Cizre, wo wir in Erwartung auf die Freilassung von Dr. Serdar Küni von einer größeren Menge von Männern, Frauen und Kindern in seiner Wohnung ausgelassen empfangen wurden. Der Jubel war groß. Viele bedankten sich bei uns für unser Kommen und drückten ihre Freude aus, dass wir uns für diesen „Fall“ interessierten. Zumindest in der kurdischen Stadtgesellschaft von Cizre ist unsere Anwesenheit als ermutigendes Zeichen empfunden worden.

Haftbedingungen

Spät um ein Uhr kam dann Dr. Serdar Küni bei uns vorbei, um sich persönlich zu bedanken. Aus der Nähe sah er sehr viel älter und müder aus als wir ihn im Video im Gerichtssaal gesehen hatten. (Er war aus dem Gefängnis von Urfa zugeschaltet worden.) Die Strapazen der zermürbenden Bedingungen während seines sechsmonatigen Gefängnisaufenthaltes waren ihm deutlich anzusehen. Trotzdem konnte er noch lachen und genoss es offensichtlich, seine Kinder in die Arme zu schließen. Beeindruckend ist seine innere Haltung, die nichts, aber auch gar nichts an Gram, Zorn oder Wut über das erlittene Unrecht zeigte. Eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, an der ich mein eigenes Handeln orientieren kann.

Solidaritätskampagne der türkischen Menschenrechtsstiftung für Dr. Serdar Küni. Foto: TIHV

Solidaritätskampagne der türkischen Menschenrechtsstiftung für Dr. Serdar Küni. Foto: TIHV

Am nächsten Tag konnten wir ihn noch einmal treffen und er berichtete uns ausführlicher über seine Haftbedingungen. Er war mit 25 anderen Personen in einer Zelle eingesperrt, diese war eigentlich für 18 Personen ausgelegt. Die Überzähligen mussten auf Bänken und improvisierten Schlafplätzen schlafen. Die hygienischen Verhältnisse seien in diesem überfüllten Gefängnis nicht ausreichend. Zwei Mal in der Woche gab es für eine Stunde für alle Zelleninsassen warmes Wasser zum Duschen – auf die Minute genau musste die Zeit dafür eingeteilt werden. Intimität gab es überhaupt nicht. Der Lärmpegel war ziemlich hoch. Abends ab 23.00 Uhr wurde das Licht ausgemacht. Er hatte noch eine Taschenlampe zum Lesen zur Verfügung, viele andere jedoch konnten sich gezwungenermaßen nur hinlegen, auch wenn sie nicht richtig schlafen konnten. Es gab dreimal am Tag zu essen, was wohl ausreichend, aber in der Zusammensetzung sehr einseitig war. Das Schlimmste war, dass er seine Familie nur einmal im Monat sehen konnte, ansonsten sei der Kontakt nur über das Handy gelaufen. Besonders die erste Zeit, als er von seinem schwer kranken Vater nichts erfahren konnte, sei für ihn sehr schmerzlich und sorgenvoll gewesen. Die medizinische Versorgung im Gefängnis sei völlig unzureichend. Ein Arzt und eine Krankenschwester für 850 Insassen sei schon personell zu wenig, in der Regel könnten etwas kompliziertere Erkrankungen nicht behandelt werden. Diese kranken Gefängnisinsassen seien in eine gesonderte Station ins Krankenhaus gebracht worden, meist in Handschellen. Die Bedingungen dort seien in keiner Weise besser als im Gefängnis, vor allem sei der Warteraum dort sehr schmutzig. So hätten vieler seiner kranken Mitgefangenen darauf bestanden, wieder ins Gefängnis zurückverlegt zu werden, weil die Bedingungen im Krankenhaus eher bedrückender und schlechter seien als auf ihren Zellen.

Wir wurden immer wieder im Gespräch unterbrochen, weil ihn ständig Menschen anriefen, um ihre Freude über seine vorläufige Freilassung auszudrücken – ein Zeichen dafür, wie die weitere Umgebung von ihm mit ihm und seiner Familie gelitten und jetzt erneuten Mut gefasst hat. Seine Inhaftierung wurde auch in der Stadtgesellschaft von Cizre als zusätzlicher Schock erlebt, umso mehr Freude löste seine möglicherweise nur vorübergehende Freilassung aus der Haft aus. Das war allenthalben zu spüren.

Schlussfolgerungen

Dr. Serdar Küni. Foto: Yeni Özgür Politika

Dr. Serdar Küni. Foto: Yeni Özgür Politika

Bevor wir als internationale ProzessbeobachterInnen auseinandergingen, einigten wir uns auf eine gemeinsame Erklärung, die weiter benutzt werden kann und von der Menschenrechtsstiftung dankbar aufgenommen wurde. Vertreter der Menschenrechtsstiftung und der Verteidigung von Serdar Küni betonten immer wieder, wie wichtig auch für sie diese internationale Prozessbeobachtung ist und ihnen einen gewissen Schutz bietet. Sie drängten uns, in unseren Bemühungen um mehr internationale Aufmerksamkeit nicht nachzulassen, sondern alles darauf anzulegen, den Druck auf die kommende Gerichtsinstanz noch einmal zu erhöhen und das Solidaritätsnetzwerk zu erweitern.

Es geht nicht allein um die Person Serdar Künis, der unschuldig verfolgt wird – die heilberufliche und besonders die ärztliche Unabhängigkeit in der Behandlung von hilfsbedürftigen Patienten steht zur Disposition. Das Beispiel Künis macht brennglasartig die furchtbaren Konsequenzen sichtbar, wenn Ärzte gezwungen werden, ihre Schweigepflicht zu durchbrechen. Sie werden gezwungen, die unterschiedslose Behandlung hilfsbedürftiger Personen aufgeben müssen – weil sie Angst haben, verfolgt zu werden und nicht mehr praktizieren zu dürfen. Hilfsbedürftige Personen können nicht mehr schadlos um medizinische Behandlung nachfragen. Letztlich steht in solchen politischen Konflikt- und Kriegssituation das Recht auf Gesundheit zur Disposition, wenn die grundlegende Pflicht zum medizinischen Handeln zugunsten fremder Interessen geopfert wird. Davon sind nicht nur türkische Heilberufler, sondern auch viele andere in politisch instabilen Konflikt- und Kriegsverhältnissen betroffen bzw. können sehr schnell in eine ähnliche Situation gebracht werden. Widerstand zur Bewahrung unserer ärztlichen Ethik und bedingungslose Solidarität mit schon betroffenen ärztlichen Kollegen und Kolleginnen ist das Gebot der Stunde. Die verfolgenden Behörden dürfen mit diesem Ansinnen einfach nicht durchkommen.

Was ist zu tun?

JedeR, der/die sich angesprochen fühlt, kann und sollte einen Brief an das Gericht in Gaziantep schreiben und sich für einen Freispruch einsetzen. In Kürze bekomme ich die Adresse des Gerichtes, an das man schreiben sollte. Eine Mailing-Liste würde ich anlegen.

Wer weitere internationale Kontakte hat, insbesondere im medizinischen Bereich, sollte auf die grundsätzliche Problematik im Fall von Dr. Serdar Küni aufmerksam machen und zur Verbreiterung des internationalen Solidaritätsnetzwerkes beitragen. Gerade Briefe aus arabischen und muslimisch geprägten Ländern könnten große Wirkung zeigen.

Wer Mitglied in internationalen medizinischen Gesellschaften oder Fachorganisationen ist oder Kontakte in diese Richtung hat, sollte sich um eine Erklärung zu diesem Fall bemühen. Als Grundlage kann die Erklärung des Weltärztebundes dienen.

Zur Ermutigung der Kolleginnen und Kollegen kann man natürlich auch Solidaritätsschreiben an die Menschenrechtsstiftung der Türkei schicken. Menschenrechtlich engagierte Heilberufler freuen sich über Unterstützung und Mut machende Aufmerksamkeit.

Falls eine erneute Prozessbeobachtung bei dem Revisonsgericht in Gaziantep möglich ist, ist die Anwesenheit von internationalen ProzessbeobachterInnen weiterhin dringend erforderlich. Aber auch andere Prozesse von weniger bekannten Personen sollten international begleitet werden. Der Kreis von Prozessbeobachtern sollte sich erweitern und auf breiteren solidarischen Schultern ruhen. Dazu veröffentlichen wir in Kürze weitere Informationen.

Ernst-Ludwig Iskenius ist IPPNW-Mitglied und beobachtete das Gerichtsverfahren gegen Serdar Küni.