Türkei: Gescheiterter Friedensprozess, Bürgerkrieg und der Weg in die Diktatur

Vor Gericht: Sebnem Korur Fincanci und Erol Önderoglu im November 2016. Foto: TIHV

Vor Gericht: Sebnem Korur Fincanci und Erol Önderoglu im November 2016. Foto: TIHV

„Wir brauchen keine Todesstrafe, wir brauchen Demokratie“, erklärte die Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsstiftung und Trägerin des Medical Peace Work Award, Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci, nur wenige Tage vor ihrem Prozess beim 13. Strafgerichtshof in Istanbul am 8. November 2016 als Reaktion auf die Rufe nach Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei. Ihr, dem Journalisten Erol Önderoglu und dem Schriftsteller Ahmet Nesin wirft die türkische Staatsanwaltschaft “Propaganda für eine terroristische Organisation” vor, wegen ihrer Teilnahme an einer Solidaritätsaktion mit der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem im Mai 2016.

Im Mai waren die drei im Rahmen einer Anhörung bei der Staatsanwaltschaft direkt ins Gefängnis abgeführt worden, so wie letztes Jahr auch der bekannte Cumhuriyet-Journalist Can Dündar – und vor kurzem viele weitere KollegInnen aus der Redaktion.

In der Türkei hat der Kampf um Demokratie eine jahrzehntelange Geschichte: für die Anerkennung der Kurden, für Menschenrechte und gegen die systematische Anwendung von Folter. Denn laut Berichten von Amnesty International wird systematisch gefoltert, obwohl die Türkei schon 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat. Seit den 1980er Jahren ist der Kurdenkonflikt in einen bewaffneten Kampf gegen die türkische Regierung umgeschlagen. Millionen von KurdInnen flohen nach Europa bzw. meist in die westlichen Großstädte. Ca. 40.000 Menschen sind zwischen 1984 und 2000 in den Kämpfen und Gewaltaktionen  gestorben, die schon vorher existierende Folter nahm massiv zu. Metin Bakkalci, der Generalsekretär der Menschenrechtsstiftung, spricht von ca. einer Millionen Folteropfern zwischen 1980 und 2005.

1996 veröffentlichte die IPPNW erstmals einen Bericht über die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die medizinische Versorgung und die Situation der HeilberuflerInnen.  Seit dieser Zeit machen IPPNWlerInnen zusammen mit internationalen MenschenrechtlerInnen Prozessbeobachtungen für MedizinerInnen, die sich für die Wahrung des Menschenrechts auf Gesundheit und gegen Folter und schwere Menschenrechtsverletzungen in der Türkei einsetzen.

ProzessbeobachterInnen in Istanbul, 8. November 2016. Foto: IPPNW

ProzessbeobachterInnen in Istanbul, 8. November 2016. Foto: IPPNW

Ab 2000 „beruhigte“ sich der Kurdenkonflikt, Ursache war die Festnahme des Kurdenführers Abdullah Öcalans durch die türkische Regierung. Den Versuch eines Friedensprozesses mit der PKK unternahm die AKP ab 2007 nur halbherzig. Die Friedensgespräche wurden in Form von Geheimverhandlungen zwischen der Regierung und einer Delegation der HDP unter Einbindung des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan geführt. Gleichzeitig verschärfte die AKP-Regierung die Sicherheitsgesetze und verstrickte sich von Anfang an in den Syrienkrieg, indem sie dschihadistische Gruppen indirekt unterstützte.
Mit dem Scheitern des Friedensprozesses (Dolmabahce-Abkommen) zwischen der AKP-Regierung und der Partei der Völker (HDP) im März 2015, den Ministerpräsident Erdogan persönlich aufkündigte, verfolgte die Regierung  einen immer autoritäreren Kurs. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 verfehlte die AKP die absolute Mehrheit, am 21. August 2016 erklärte Erdogan dann, er ordne Neuwahlen zum Parlament an.

Etwa zur selben Zeit begann die militärische Abriegelung der kurdischen Städte an der syrischen Grenze. Zwischen Juli 2015 und Juli 2016 wurde in 30 Stadtteilen von acht Provinzen im Südosten der Türkei 89-mal eine Ausgangssperre „rund um die Uhr” ausgerufen (Quelle: Türkische Menschenrechtsstiftung). Während der Ausgangssperren kam es zu heftigsten Gefechten zwischen Militärs und kurdischen Aufständischen.

Hunderte von Menschen wurden getötet, Häuser und Infrastruktur der Städte gezielt zerstört. Selbst Krankenhäuser wurden vom Militär besetzt und dem medizinischen Personal wurde befohlen, nur bestimmte Personen zu behandeln. Prof. Sebnem Korur Fincanci besuchte mit einer der Delegationen der Ärztekammer die Stadt Cizre und wies anhand der medizinisch-pathologischen Spuren nach, dass ZivilistInnen in den Kellern von Häusern mit Brandbomben ausgelöscht wurden. Auch diese Aktivität mag mit ein Grund dafür sein, dass Fincanci im Mai 2016 verhaftet wurde.

Warum kam es zum Scheitern des Friedensprozesses zwischen der AKP und der HDP?

Das Gesellschaftsprojekt der AKP ist von Anfang an als autoritär einzustufen. Es geht um die Zentralisierung der Macht und um die Herausbildung einer türkisch-islamischen Nation. Da die KurdInnen zu mehr als 90% sunnitisch sind, versuchte die AKP lange und teilweise auch erfolgreich, sie als Subgruppe in der allumfassenden islamischen Gemeinschaft zu fassen. Mit dem Aufstieg der HDP nach dem Gezi-Aufstand 2013 und dem erfolgreichen Rojava-Projekt scheiterte die politische Strategie der AKP.

Der Politologe Errol Babacan erklärt, dass mit der Verhängung des Ausnahmezustands nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 die Installation der Diktatur vorläufig abgeschlossen sei. Angesichts dieser düsteren Faktenlage wird die Solidarität mit der Menschenrechtsstiftung, mit Sebnem Korur Fincanci und mit zahlreichen anderen HeilberuflerInnen und MenschenrechtlerInnen weiterhin dringend erforderlich sein. Die Menschenrechtsstiftung ruft jetzt zur Solidarität mit Dr. Serdar Küni auf, dem vor kurzem inhaftierten Mitarbeiter der Menschenrechtsstiftung in Cizre.

Lesetipp: Errol Babacan: Unauflösbare Widersprüche. Die kurdische Bewegung und die AKP. In: Wissenschaft & Frieden 2016-2: Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume

Dr. Angelika Claussen ist IPPNW-Vizepräsidentin für Europa.