Türkei und Kurdistan: Größte Herkunftsgebiete von Geflüchteten in Deutschland

Friedhof in Van

Friedhof in Van

Mittlerweile ist bereits eine Woche unserer Reise vorüber. Den ersten großen Themenbereich bildeten Flucht und Migration. In Istanbul trafen wir den Internationalen Solidaritätsverein für migrantische Frauen – Uluslararası Göçmen Kadınlar Dayanışma Derneği, www.ugkdd.org. Ca. 25 Frauen aus Syrien, Iran, Osttürkei, Afghanistan, Niger, Kamerun und der Türkei empfingen uns. Sie finden hier mehrsprachig und multireligiös zusammen. Sie organisieren Selbsthilfe gegen Einsamkeit/ für Solidarität, Rechtsberatung, Gesundheit, Kochen (auch als Einkommen), unterstützen bei Scheidung, Wohnungssuche, Kinderbetreuung, alles. Das allermeiste geschieht auf Basis von ehrenamtlicher Arbeit, sowohl der lokalen als auch der geflüchteten Frauen. In dem Rahmen haben wir auch mehr über die Probleme der syrischen Geflüchteten erfahren. Das größte ist die Ungewissheit, ob und wie lange sie bleiben dürfen. Eine Ansiedlung in einer „Sicherheitszone“ in Nordsyrien lehnen sie ab, da das ebenfalls nicht ihre Heimat ist. Das würde zudem die kriegerische Vertreibung der jetzigen Bevölkerung bedeuten. In der aktuell von der Türkei besetzten Region Afrin (Nordsyrien) ist zu beobachten, dass es zu massiven Vertreibungen, Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen kommt, wie etwa HRW berichtet.

Van und die tödliche Grenze zum Iran

Danach flogen wir weiter nach Van in die östlichste Großstadt der Türkei, die ca. 100 km von der iranischen Grenze entfernt ist. Sie liegt auf der Hauptfluchtroute für Menschen aus Pakistan, Afghanistan und Iran nach Europa. Deswegen wurde in den letzten Jahren die komplette Grenze mit einer drei Meter hohen Betonmauer befestigt. Aber auch aus Van selbst fliehen viele Menschen aufgrund der wirtschaftlichen Lage und der politischen Repression. In den letzten beiden Jahren waren wir jeweils hier und im Bericht vom letzten Jahr (Seite 9f.) findet Ihr ausführlichere Texte dazu, ebenso auf diesem Blog.

Mit der Anwaltskammer Van, mit dem Anwalt und ehemaligen Mitarbeiter des UNHCR Mahmut Kaçan und mit der Refugee Law Clinic führten wir Gespräche zur Lage der Geflüchteten an dieser Grenze. Von ihnen haben wir viele Informationen zum türkischen “Schutzsystem” für Geflüchtete erhalten. Es gibt das Problem, dass viele Menschen nicht registriert werden und dadurch keinen Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheit, und weiterer Grundversorgung bekommen und komplett in der Irregularität bleiben. Wenn die Leute so aber aufgegriffen werden – und die Türkei hat viele Checkpoints -, dann kommen sie schnell in Abschiebehaft. In Abschiebehaft und an der Grenze selbst, kommt es zum Teil zu schwerer Gewalt durch Uniformierte, die quasi straffrei bleibt. Die Mauer zum Iran wurde nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan fertig gestellt. Zunächst hat es direkte Abschiebeflüge nach Afghanistan gegeben. Mittlerweile gibt es Pushbacks direkt über die iranische Grenze.

In diesen Bergen ist es im Winter sehr kalt und es erfrieren immer wieder Menschen oder sie werden von Tieren angegriffen. Es gibt auch immer mehr Berichte darüber, dass Geflüchtete nach den Pushbacks durch Banden aufgegriffen werden, die sie entführen, foltern und ihre Familien erpressen. Wege durch die Mauer gibt es natürlich doch immer wieder und im Prinzip ist das eine große Förderung für das organisierte Verbrechen, dass die entsprechenden korrupten Strukturen schafft. (Für EU-Bürger*innen und für Syrer*innen gibt es nochmal andere Asylregelungen, aber das führt an dieser Stelle zu weit).

Der Friedhof der „Aussätzigen“

Bei der Abreise besuchten wir einen Friedhof in Van. Während an einer Seite die normalen Gräber nebeneinander angeordnet sind, gibt es auf der Rückseite einen kleinen Friedhof für die Bestattung von “Menschen ohne Angehörige”. Damit gemeint sind entweder  unidentifizierte Geflüchtete oder verstorbene Guerillakämpfer*innen.

Wir sind an diesen Ort gekommen, weil hier die Leichen von einem Bootsunglück beerdigt wurden, bei dem 61 Geflüchtete gestorben sind. Von ihnen konnten bis heute nicht alle identifiziert werden. Die “People on the move” sind “illegal” oder haben Residenzpflicht und müssen deswegen den Landweg mit den vielen Checkpoints meiden, was in der Folge zu Unglücken auf dem See führt.Hier auf dem Friedhof liegen aber viel mehr Menschen. Manche von ihnen sind in den Bergen erfroren.

BTÖ - Gräber von Guerilla-Angehörigen

“BTÖ” – Gräber von Guerilla-Angehörigen

Andere sind als Guerillas getötet worden. Auf den kleinen Basaltplatten sind manchmal kleinere Hinweise geschrieben zum Todestag oder zur Nationalität der Toten. Manchmal sind sie nur nummeriert. An wenigen Gräbern sind mittlerweile Namen angebracht worden, die meisten bleiben anonym. Im Falle der Guerillas werden die Gräber sogar gezielt wieder zerstört, wenn die Familien sich darum kümmern, ihnen würdevolle Gräber zu geben. Auf den Platten steht unter anderem “A.TIP”: Gerichtsmedizin, “YYÜ”: Kürzel der lokalen Universitätsmedizin, oder in einem Fall “BTÖ – Bölücü Terror Örgütü”: “Separatistische Terrororganisation”. Solche Abteilungen für „Aussätzige“ soll es auf allen normalen Friedhöfen in Van geben. Es muss immer wieder betont werden, dass das alles von den europäischen Staaten gedeckt ist, um die Migration in die EU zu verringern. Die genannten Menschenrechtsverletzungen wären ohne die Tolerierung durch sie nicht möglich.

Vertreibung aus den Döfern und Flucht nach Westen

In Diyarbakır haben wir den Verein Göçiz-Der getroffen, der Binnenmigration und internationale Fluchtrouten beobachtet und nach Möglichkeiten auch Geflüchtete unterstützt. Die Vereinsmitglieder beobachten, dass Familien, die bei der Zerstörung der kurdischen Dörfer zwischen 1988 und 1994, vertrieben wurden teilweise bis heute nicht angekommen sind. Sie kamen erst in die Kleinstädte, dann die Großstädte, dann in den Westen der Türkei und mittlerweile findet eine seht große Bewegung Richtung Europa und Deutschland statt. Ein Problem ist, dass eine Rückkehr in die Dörfer bis heute von den Sicherheitsbehörden verhindert oder mindestens behindert wird, in dem der Ausnahmezustand verhängt wird, Weiden nicht benutzt werden und Felder nicht bestellt und gepflegt werden können. Weitere Probleme sind die desaströse wirtschaftliche Lage und politische Repression, besonders im Südosten der Türkei. Und natürlich die massiven Zerstörungen durch das Erdbeben 2023.

Auch andere Organisationen wie die Ärztekammer berichten von massiver Emigration. In Diyarbakır haben allein 2023 insgesamt 47 Ärzt*innen die Stadt Richtung Europa verlassen. Das führt mittlerweile zu Unterversorgung und gestiegener Arbeitsbelastung. Der Verein Göçiz-Der möchte nun mehr über die kurdische Diaspora in Europa und Deutschland erfahren.

Uwe Weitzmann ist zur Zeit mit der IPPNW-Delegation in der Südost-Türkei unterwegs.

2 Gedanken zu „Türkei und Kurdistan: Größte Herkunftsgebiete von Geflüchteten in Deutschland

  1. Herzlichen Dank an die mutigen Delegationsmitglieder. Ihr bringt wichtige, aktuelle Informationen mit. Diese Reisen mit permanenten Treffen und Interviews sind an sich schon anstrengend, führten Euch auch diesmal sicher wieder an manche (emotionale) Grenze. Umso mehr Euch Dank, dass Ihr gleich begonnen habt, auch Berichte zu schreiben und auf die Menschenrechtslage hinzuweisen. Die “kurdische Frage” in der Türkei ist nicht nur ein ungelöstes Erbe aus dem Ersten
    Weltkrieg wie letztlich der explodierende Konflikt Israel/Palästina auch. Die Reisegruppe konnte einen in der Türkei einen Friedensprozeß miterleben und dokumentieren, der mit einem “Gesellschaftsvertrag” nicht nur in Rojava zivilgesellschaftlich ausgeformt wurde und aus Eskalation und Militarisierung des Konfliktes herausführen kann. Anstatt die repressive Gewaltpolitik der Ergogan- Regierung 1:1 zu übernehmen könnte eine wirklich Menschenrechts orientierte deutsche Außenpolitik hier an diesem Gesellschaftsvertrag und seinen emanzipatorischen Grundgedanken ansetzen… Als Beispiel für den ganzen Kriegs erschütterten Nahen Osten…. Ihr von der Delegation gehört zu den wenigen, die sich noch in persona in die Region wagen und die Aktivist:innen dort nicht allein lassen wollen. Eure Bericht von den aktuellen Fluchtbewegungen rüttelt hoffentlich wach, warum Lager für abgewehrte Geflüchtete an den EU keine Lösung sein werden, sondern Keimzellen für immer größere Gewalt. Ungelöste Konflikte können sich auf Dauer nicht in Lager abschieben lassen. Das zeigt sich so schmerzlich und blutig gerade in Israel/ Palästina. Eure Berichte geben den Menschen ein Gesicht, die jetzt nicht namenlos an den EU-Außengrenzen verschwinden dürfen.
    Kommt gut an nach Eurer Reise. Ich wünsche Euch erst einmal ruhige Ostertage. Herzliche Grüße, Elke Schrage

  2. Vielen Dank für Euren ersten, für mich auch mit Neuem und Alten Informationen bespickten Bericht.Ich sehe neue Aufgaben auf uns hier in Europa und Deutschland zukommen. Schön, dass ihr für uns zur Zeit vor Ort seid. Elu

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