
Eine Flüchtlingsfamilie aus Kobane
Nach dem Überfall des IS in der Sinjar-Gegend wurde über die Gesellschaft für bedrohte Völker ein Aufruf verbreitet, in dem Ärzte für die Versorgung der Flüchtlinge gesucht wurden. Ich entschloss mich nach Diyarbakir zu fahren, um zu sehen, wie die Situation vor Ort ist und ob und in welcher Weise ich helfen könnte.
Am 19. und 20. September 2014 habe ich ein Camp besucht, das etwa 18 km außerhalb von Diyarbakir in Richtung Mardin liegt. Hier leben etwa 5.000 yezidische Flüchtlinge. Das Camp war relativ gut organisiert und liegt in einer Gegend, die eigentlich ein Ausflugs- und Picknick-Ort für die Menschen aus der nahen Großstadt ist. Die meisten Menschen lebten in Zelten, in denen es elektrisches Licht gab. Aber es gab auch noch zahlreiche Familien, die ihren Bereich lediglich mit Plastikplanen und Decken abgesteckt und kein Dach über dem Kopf hatten. Schon zu dieser Jahreszeit mit Tagestemperaturen von über 30°C klagten besonders die älteren Menschen über die Kälte in der Nacht. Die Versorgung mit Lebensmitteln erfolgte durch Catering.

Die meisten Menschen lebten in Zelten. Aber es gab auch noch zahlreiche Familien, die ihren Bereich lediglich mit Plastikplanen und Decken abgesteckt und kein Dach über dem Kopf hatten.
Im Camp gab es Wasserstellen, Toiletten (etwa eine Toilette für 25 Menschen), einen Sportplatz und ein zentrales Gebäude. In diesem Gebäude befanden sich zwei mit Vorhängen abgetrennte Untersuchungsliegen, ein Wartebereich, ein Vorraum und eine kleine Apotheke, in der meine aus Deutschland mitgebrachten Medikamente gerne entgegen genommen wurden. Täglich kamen täglich für einige Stunden Ärzte zur Versorgung der Flüchtlinge in das Camp. Im Notfall konnte ein Krankenwagen gerufen werden, der die Kranken nach Diyarbakir in ein Krankenhaus brachte.
Für mich bestand nur wenig Möglichkeit sinnvoll zu helfen, weil keine Übersetzer zur Verfügung standen. Mit Hilfe einer befreundeten kurdischen Englisch-Lehrerin war es mir jedoch möglich, einige Kranke zu sprechen. Eine junge Frau zeigte mir ihr erstes Kind, das sie vor wenigen Wochen in der Gegend von Sinjar zur Welt gebracht hatte. Als das Kind zweite Tage alt war, kam der IS und die Flucht. Der Kleine zeigte zum Glück keine Krankheitssymptome. Aber die Eltern, die noch ohne Zelt unter freiem Himmel lebten, waren durch das, was sie erlebt hatten, deutlich belastet.
Eine andere Frau fragte mich um Rat wegen ihrer Tochter. Die 8jährige Nadja saß auf dem Boden und stieß in unregelmäßigen Abständen eigenartige Laute aus, wobei sie die Gliedmaßen anspannte und mit den Zähnen knirschte. Nadja sei seit der Geburt behindert, sie habe nie sprechen gelernt, sei aber ein ruhiges freundliches Kind gewesen, das einfache Tätigkeiten verrichten konnte. Seit dem sie den Überfall der IS erlebt habe, sei sie völlig verändert. Die Laute des Mädchens deutete ich als erstickte Schreie, als ein Versuch ihr Entsetzen auszudrücken, wozu sie keine Worte hatte.
Wenige Schritte entfernt lag eine junge Frau auf einer Decke. Einige Frauen waren bei ihr und versuchten in irgendeiner Form auf sie einzuwirken. Die junge Frau weinte und jammerte, dann begann sie zu hyperventilieren, sie verkrampfte sich, stieß leise Schreie aus und fiel dann in eine Art Erschöpfung, nach wenigen Minuten begann sie wieder zu stöhnen und zu hyperventilieren.
Das gehe den ganzen Tag so, erklärte eine ältere Frau. Dann wurde mir berichtet, die Frau habe zugesehen, wie Menschen geköpft worden seien. Sie selbst habe mit einigen Verwandten entkommen können. Während ich versuchte, mich um die Frau zu kümmern, hatte ein Mann einen Krankenwagen gerufen, um die junge Frau ins Krankenhaus bringen zu lassen. Die Fahrer der Ambulanz wollten sie jedoch nicht mitnehmen. Sie waren der gleichen Ansicht wie ich, dass es besser sei, die Frau bei ihren Angehörigen zu lassen, als sie allein in die fremde Krankenhausumgebung zu bringen. Gemeinsam suchten wir nach einer medikamentösen „Nothilfe“.
Einfacher war das Problem eines Mannes zu lösen, der auf ein Antiepileptikum eingestellt gewesen war, was im Camp nicht gefunden wurde. Nach Auskunft seines Bruders seien in der letzten Zeit zwei generalisierte Anfälle pro Tag aufgetreten. Schließlich fand sich doch noch eine kleine Packung des gesuchten Medikamentes in der Camp-Apotheke und ein Apotheker, der gerade aus Istanbul gekommen war, um eine Medikamenten-Spende abzugeben, versprach, am nächsten Tag weitere Packungen dieses Medikamentes zu schicken.

Das Flüchtlingscamp in Silopi, im Dreiländereck Türkei/Syrien/Irak
Am folgenden Tag erhielt ich die Mitteilung, es sei sinnvoller für mich, in ein anderes Camp zu gehen, wo ein Arzt sei, der Englisch spreche. Montag den 22. September fuhr ich mit dem Bus nach Silopi, was im Dreiländereck Türkei/Syrien/Irak gelegen ist. In diesem Camp lebten etwas mehr als 1.000 Menschen, darunter viele Kinder. Fast alle waren Yeziden aus der Gegend von Sinjar. Kurz vor mir waren allerdings noch neue Flüchtlinge – syrische Kurden aus Kobane – eingetroffen. Leider standen mir in diesem Camp nur Bewohner, die mehr oder weniger gut Englisch verstanden als Dolmetscher zur Verfügung.
In dem Camp gab es keine Organisation. Die Flüchtlinge hatten wohl überwiegend Zelte von der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt bekommen und wurden in unregelmäßigen Abständen von Assistenzärzten aus dem Krankenhaus der Stadt betreut. Die medizinischen Möglichkeiten in diesem Camp waren unzureichender als in Diyarbakir. Es gab nur einen Container mit einem kleinen Raum zur Behandlung der Patienten, ohne Liege, mit wenigen Medikamenten. Ich habe zwei Ärzte gesehen. Der eine, ein sehr freundlicher und ganz junger Mann, sprach nur türkisch und schien völlig überfordert, der andere sprach etwas Englisch, war aber auch zum ersten Mal in dem Camp und versuchte, irgendwie der Situation gerecht zu werden.
Die Verpflegung und die Versorgung der Flüchtlinge mit Decken, Kleidung, Geschirr und Matratzen war in privater Initiative von den Bewohnern der Umgebung geleistet worden. Es war ein kleines „Schulzelt“ und ein „Kindergartenzelt“ errichtet worden. In einem Gemeinschaftszelt stapelten sich die Sachspenden gestapelt, an den Zeltwänden hingen Plakate von Abdullah Öcalan.
Der Mann mittleren Alters, der recht gut Englisch verstand und mir seine Hilfe bei der Beantwortung von Fragen und bei der Übersetzung im Gespräch mit anderen Flüchtlingen anbot, stellte sich mir als yezidischer Scheich vor. Er hatte Mühe beim Laufen, da er unter einer rheumatischen Erkrankung litt, und war in seiner Heimat mit einem sehr teuren Medikament behandelt worden, was er vor Ort nicht bekommen konnte. Mit Hilfe dieses Mannes habe ich zwei längere Gespräche mit Flüchtlingen im Camp geführt.
Ein 56jähriger Mann war aus der Stadt Sinjar geflohen. Er war ein einfacher Mann, Analphabet ohne jegliche Schulbildung. Seinen Lebensunterhalt hatte er als Landarbeiter verdient. Leicht sei das Leben für ihn nicht gewesen. Immer wieder habe es Gewalt und Übergriffe gegen Mitglieder seiner Religionsgemeinschaft gegeben.
Als vor einigen Wochen die Kämpfer des IS gekommen seien, habe er erleben müssen, dass sich auch moslemische Nachbarn aus seiner Heimatstadt an der Erschießung der Yeziden beteiligt hätten. Es sei unbeschreiblich gewesen, was er erlebt habe. Viele der jungen Männer seien getötet worden. Die Frauen seien vergewaltigt und die Mädchen seien geraubt worden. Die Mädchen würden zwangsislamisiert und an andere arabische Länder verkauft. Er habe fliehen können. Später sei ihm von den Peschmergern Geld angeboten worden, wenn er in seine Heimat, die jetzt frei von IS-Kämpfern sei, zurückkehre. Er habe sich geweigert. Er würde niemals zurück kehren. Das nächste Massaker sei absehbar. Er wolle nach Europa. Auch den Peschmergern vertraue er nicht. Die Peschmerga seien Moslems. Die einzige Hilfe sei von der PKK gekommen. Diese Organisation habe keinen Gott für den sie kämpfe und da sie keinem Gott verpflichtet sei, würde sie auch keine Menschen im Namen eines Gottes töten. Schnell hatte sich ein Kreis von Menschen um uns gebildet, eine Rückzugsmöglichkeit im Camp gab es nicht. Die Menschen fragten nach der Meinung der Deutschen, wie verhalten sie sich angesichts dieser Morde? Warum ist es so schwer nach Europa zu kommen? Immer wieder wurde gefleht, helft uns, dass wir hier raus kommen. Von der türkischen Regierung erwarten wir keine Hilfe, den Moslems trauen wir nicht.
Ein anderer Mann im Alter von 48 Jahren war mit seiner Frau und seinen sechs Kindern aus einem Dorf in der Nähe von Kobane geflüchtet. Erst vor zwei Tagen war er angekommen, er war mit dem geflohen, was er am Leib trug. Als die IS-Kämpfer kamen, sei er mit seiner Familie weggelaufen. Er habe von weitem gesehen, dass Nachbarn, die einen Teil ihrer Habe retten wollten, getötet worden seien. Er habe gesehen, wie sein Haus in Brand gesetzt und seine Schafherde weg getrieben worden sei. Er sei so schnell gelaufen wie er konnte und sei über viele Kilometer von seinem Hund begleitet worden. Später sei er von einem Auto eine Strecke mitgenommen worden, er habe seinen Hund zurück lassen müssen. Als das Gespräch auf seinen Hund kommt, kann der kräftige Mann seine Tränen nicht mehr zurück halten. Er wolle zurück in seine Heimat sagt er dann. Er habe unter Assad gelitten und habe als Kurde kein leichtes Leben gehabt, aber es sei seine Heimat und er wolle so schnell wie möglich wieder in sein Land.
Es kamen noch viele Menschen, die Hilfe brauchten. Sie waren dankbar dafür, dass sich Menschen aus Europa für sie interessierten, doch die Möglichkeiten im Camp mit meinen Mitteln zu helfen, waren gering. Schließlich hatte ich das Gefühl in dieser immer unübersichtlicher werdenden Situation mehr im Weg zu stehen, als helfen zu können. Mit einem sehr unguten Gefühl entschloss ich mich zur Rückkehr.
Marlene Pfaffenzeller ist Ärztin und IPPNW-Mitglied
Der Bericht macht sehr deutlich, dass neben humanitärer Hilfe für die Flüchtlinge die religiös fanatische, mörderische ISIS mit militärischen Mitteln von uns (UN und NATO) gestoppt werden muss und zwar sofort.