Mahmut Kacan, der ehemalige Vorsitzende der Anwaltskammer von Van, äußert sich zurückhaltend zu den Imrali-Gesprächen. Er hält das Vorgehen der Regierung für intransparent und sieht unter den gegenwärtigen Bedingungen staatlicher Repression keine Basis für einen kurdischen Gesellschaftskongress. Dieser sei aber in einer grundlegenden Frage wie der Aufgabe des bewaffneten Kampfes notwendig und werde auch von Abdullah Öcalan gefordert. Wie soll über Rojava verhandelt werden, solange dort ein Angriffskrieg geführt wird? Erst am 17. März 2025 seien dort sieben Menschen – eine ganze Familie mit fünf Kindern – durch eine nachweislich türkische Drohne getötet worden.
Im Gespräch berichtet der Anwalt von seiner Menschenrechtsarbeit mit Flüchtlingen und von der besonderen Lage der Stadt Van auf der Transitroute aus dem Iran, Afghanistan und Pakistan. Für Flüchtlinge von dort sei das hiesige Asylsystem zusammengebrochen. Sie würden nicht mehr registriert, seien illegalisiert im Land, erlitten rechtswidrige und brutale Pushbacks, wenn sie an der Grenze aufgegriffen würden. Beratung und Hilfe seien nur für diejenigen möglich, die die Stadt und NGOs erreichen.
Ankaras Mauerbau an der iranisch-türkischen Grenze sei inzwischen zu 90 % abgeschlossen. Menschenschmuggel sei in der strukturschwachen Region zu einem Geschäft geworden. Früher ein Straftatbestand, würden Strafen dafür heute erlassen, wenn es keinen „Terrorzusammenhang“ gebe.
Die Geflüchteten aus Syrien ab 2011 seien zunächst als Gäste angesehen worden. Wenn sie sich registrieren ließen, erhielten sie basale Rechte wie das auf Bildung. Seit dem HTS-Regimewechsel in Syrien würden Ausreiseverpflichtungen erstellt, auch entgegen Gerichtsbeschlüssen. So sei jüngst ein kurdischer Klient von ihm trotz gewonnenem Prozess in das Islamisten-Gebiet Idlib abgeschoben worden.
Zu Gast im Büro der DEM-Partei
Die Hinterhof-Lage und Kargheit des DEM-Parteibüros kontrastieren einen in den Hauptstraßen zur Schau gestellten Wohlstand hochmoderner Ladenzeilen und hochpreisiger Konsumwelten. Im Parteibüro treffen wir Neslihan Sedal, die von Ankaras Zwangsverwaltung abgesetzte Co-Bürgermeisterin von Van, sowie die Doppelspitze der Partei. Wir informieren, dass unsere Reiseleiterin Dr. Gisela Penteker mit einem Einreiseverbot belegt wurde. Solidarisch berichtet Frau Sedal, dass für sie und ihre Kolleg*innen ein Ausreiseverbot bestehe. Alle ihre kommunalen Programme seien ohne juristische Grundlage per Dekret gestoppt worden. Ihre Integrationsräte seien aufgelöst worden.
Zum Imrali-Prozess erklärt die Parteispitze, dass der kurdisch-türkische Konflikt nicht mit Gewalt zu lösen sei und gerechter Frieden nur demokratisch entstehen könne. Die historische Bedeutung der Erklärung Abdullah Öcalans vom 27. März 2025 ergebe sich aus der Notwendigkeit von Frieden für den gesamten Nahen Osten. Die Kurd*innen seien bereit: „Nun ist die türkische Regierung dran.“ Verankerung kurdischer Identität und Sprache sowie die Freilassung der politischen Gefangenen seien Voraussetzungen für Frieden. Das multiethnische, säkulare Gesellschaftsmodell von Rojava sei ein Friedensbeispiel für den gesamten Nahen Osten. Dort hielten Kurd*innen den IS unter Kontrolle. Europa müsse seine Doppelmoral aufgeben.
Auch bei der suspendierten Co-Bürgermeisterin von Batman, Gülistan Sönük, und ihrer Parteispitze wird die historische Bedeutung der Erklärung Öcalans vom 27. Februar 2025 aus der schieren Notwendigkeit eines Friedens im Land und der Region gesehen. Auch hier ist der Bericht der Schäden, die durch die Zwangsverwaltung angerichtet wurden, verstörend. Diese habe zuallererst die Erweiterung des Mutterschutzes für städtische Angestellte von sechs auf zwölf Wochen wieder abgeschafft, sowie die neu eingerichteten Feiertage am 25. November und 8. März. Die Bürgerberatung sei an die Religionsbehörde Dinayet übergeben worden, die daraus eine Koranschule mache. Frau Sönük habe bei den letzten Kommunalwahlen ihr Amt mit 67 Prozent, dem Türkei-weit höchsten Stimmenanteil für die DEM-Partei, gewonnen. Das sei in der traditionell noch feudalistischen Region eine Überraschung gewesen. Hier sei die islamo-faschistische kurdische Hisbollah stark vertreten. Ihr legaler Arm, die Hür Dava Partisi, habe hier früher Wahlen gewonnen.
Auffallend sei, dass nach dem Vorstoß von Devlet Bahçeli und den Imrali-Besuchen niemand von unseren Gesprächspartner*innen von einem Friedensprozess spreche. Die Spanne der Einschätzungen reiche von „Der türkischen Seite ist nicht zu trauen“ bis hin zu verhaltener Hoffnung aus schierer Notwendigkeit und aufgrund der politischen Instabilitäten. Explizit benannt werde dies beim Verein der Angehörigen der politischen Gefangenen Med Tuhad-Fed in Diyarbakir: „Wir sagen nicht Friedensprozess, sondern Veränderungsprozess.“
Empfang im Rathaus von Diyarbakir
Ausführlicher wird Serra Bucak, die Co-Bürgermeisterin der Millionenstadt Diyarbakir. Am Tag nach der friedlich verlaufenen großen Newroz-Feier am 21. März mit über einer Million Teilnehmer*innen empfängt sie uns im Rathaus, gemeinsam mit ihrem Co-Bürgermeister Dogan Hatun und den Co-Bürgermeister*innen von drei Stadtbezirken. Die Erfolge und die Differenziertheit ihrer Arbeit spiegeln die Professionalität eines gut organisierten Teams wider. Sie berichten von den Schäden und Schulden, die ihnen zwei vorausgegangene Zwangsverwaltungen hinterlassen haben. Es geht auch um die gesellschaftliche Traumatisierung durch das Erdbeben im Februar 2023 und durch die jahrzehntelange politische und militärische Repression.
Die beiden ärmsten Stadtteile Baglar und Sur seien zugleich die politischsten. Nachdem sich dort Tausende Opfer der staatlichen Dorfzerstörungspolitik der 1990er Jahre angesiedelt hatten, waren die Bewohner*innen in den Städtekriegen 2015–16 erneut von Zerstörung und Vertreibung betroffen. Nach einer aktuellen Umfrage leben 82 % der Bewohner*innen unterhalb der Armutsgrenze, in Sur genaugenommen 100 %. Die Analphabetenrate liegt bei 20 %. 42 % der befragten Jugendlichen haben Kontakt mit Drogen. Das Einstiegsalter liege inzwischen bei acht bis zehn Jahren, der Zugang zu Drogen sei leicht – und finde „direkt vor den Augen der staatlichen Sicherheitskräfte“ statt.
Das Hauptziel der jetzigen Stadtverwaltung sei die Armutsbekämpfung. Die Verwaltung wolle wieder für die Bürger*innen zugänglich sein. Nach der Wahl im März 2024 und dem Ende der abgeschotteten Zwangsverwaltung hätten täglich ab morgens acht Uhr ganze Schlangen von Bürger*innen vor dem Rathaus gestanden, um die gewählte Stadtregierung zu begrüßen und Anliegen vorzutragen. In einem ganzen Jahr ohne Zwangsverwaltung sei Diyarbakir wieder zu einer „Stadt der Frauen“ geworden. Die Zwangsverwaltung habe die größte Armut mit minimaler Sozialhilfe über eine Bezahlkarte „ruhiggestellt“, anstatt in Sozialprojekte und Langfristigkeit zu investieren. Jetzt wolle die gewählte Verwaltung mit solchen Projekten den Bürger*innen Hoffnung und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zurückgeben. Dazu gehöre eine demokratische, ökologische und frauenbefreite Grundhaltung.
Dr. Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied.