Ärzt*innen im aufenthaltsrechtlichen Kontext

Abschiebung. Grafik: IPPNW

Abschiebung. Grafik: IPPNW

Grundsätzlich ist es Ziel eines jeden Arztes und einer jeden Ärztin, Menschen mit Belastungen bzw. Erkrankungen zu diagnostizieren, zu beraten und zu behandeln. Dazu gehört auch, in regelmäßigen Abständen den Behandlungsverlauf zu dokumentieren sowie in besonders kritischen sozialrechtlichen Situationen besondere Erkrankungs- bzw. Behandlungsumstände zur attestieren, um entwicklungs- und gesundheitsfördernde Maßnahmen zu begünstigen und schädigende Umstände, die einer Genesung entgegenwirken, zu begrenzen.

Im aufenthaltsrechtlichen Verfahren ergibt sich jedoch in einer Vielzahl der Fälle ein umgekehrter Ablauf: Bevor sich Menschen mit schwierigen Verfolgungs-, Kriegs- und Fluchtgeschichten im Erstaufnahmekontext soweit stabilisieren konnten, dass sie ihrer psychischen Situation bewusst sind, ihre Behandlungsbedürftigkeit erkannt und sich im ärztlichen Gesundheits- und Versorgungssystem orientiert haben, fordert die derzeit übliche Geschwindigkeit der Asylanhörungen das schnelle Beibringen „aussagefähiger ärztlicher Atteste“. Das bringt Familien, Alleinreisende, aber auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete in die Verlegenheit, als Grund ihres ersten Arztbesuches die Notwendigkeit einer für das Bundesamt gültigen Gesundheitsbescheinigung zu benennen, die als existenzsichernd angesehen wird, und in ihrer Wichtigkeit nachvollziehbarerweise subjektiv erst einmal höher eingeschätzt wird, als eine vorübergehende durch Behandlung erzielte Entlastung von Leid und Schmerz.

Mit dem Wunsch der Patient*in nach Dokumentation eines für den Aufenthaltstitel wirkungsvollen Befundes konfrontiert zu sein, bevor das eigentliche ärztliche Wirken, also das differenzialdiagnostische Denken und das an Gesundung orientierte Handeln, zur Geltung kommen konnte, führt oft zu einer reflexartigen Distanzierung gegenüber dem Patient*in. Die primäre Forderung nach einem Attest wird somit häufig als Einengung der ärztlichen Freiheit und Unabhängigkeit erlebt. Nur selten wird deutlich, dass die bisweilen als Instrumentalisierung und damit als unangenehm wahrgenommene Attestorientierung der Patient*innen Folge der beschleunigten asylrechtlichen Entscheidungsprozesse ist. Zum einen erhöhen diese den zeitlichen Druck auf die Patient*innen, zum anderen verschieben sie die Verantwortung für die Identifikation von menschlichem Leiden mit der Nachweispflicht in den privaten Raum der Betroffenen und in das Gesundheitssystem.

Foto: Steve Evans (Symbolbild) / CC BY NC 2.0

Foto: Steve Evans (Symbolbild) / CC BY NC 2.0

Fallbeispiel 1:

Familie Y, wohnhaft in öffentlich-rechtlicher Unterbringung, kommt mit ihrem Kind in die Sprechstunde. Das Kind, unter kriegerischen Auseinandersetzungen im Heimaland geboren, in einem Flüchtlingscamp aufgewachsen, mehrmals in unterschiedliche Länder migriert, schlafe kaum noch, wenn es schlafe, nässe es nachts ein, tagsüber habe es zahlreiche Wutanfälle, widersetze sich, sei kaum mehr ansprechbar. Die Eltern formulieren den Bedarf nach einem ärztlichen Attest für das Asylverfahren im Auftrag des zuständigen Rechtsanwaltes. Das Attest wird bis Ende der Woche benötigt. Der Arzt bittet die Familie wieder hinaus. Er stelle grundsätzlich keine Atteste für Asylverfahren aus. Die Eltern dürften sich wieder melden, wenn es um die Behandlung des Kindes ginge, denn dafür sei er als Arzt zuständig. Die Familie erhält einen Abschiebebescheid. Eine Behandlung des Kindes kommt nicht zustande.

Über die Entwicklung sogenannter Standards für die Begutachtung von Trauma-Folgestörungen in asylrechtlichen Verfahren hat die Ärzteschaft ihrerseits den Ball aufgefangen. Seit Mitte der 1990er Jahre bemüht sie sich darum, den Entscheider*innen beim Bundesamt mit einer besonders ausgefeilten Professionalisierung des Begutachtungshergangs und -umfanges zu begegnen. Wenngleich die Qualität dieser Begutachtung einen hohen Standard hat, ist nur ein kleiner Teil der Ärzteschaft ausreichend dafür qualifiziert, und noch ein kleinerer Teil unter Wirtschaftlichkeitsaspekten in der Lage, diesen Zeitaufwand im Rahmen der sozialmedizinischen Versorgungspauschalen abzugelten. Gerichtlich in Auftrag gegebene und damit finanzierte Begutachtungen sind äußerst selten. Selbst für spendenfinanzierte Begutachtungen lassen sich kaum ärztliche Gutachter*innen finden. Zudem obliegt die Würdigung des Gutachtens dem Sachverständigen des Bundesamtes, der bei entsprechender Neigung ablehnend entscheiden kann mit dem Hinweis darauf, dass die Anamnese nicht mit Beweismaterial untermauert wurde und aus Sicht des Bundesamtes unhaltbarerweise lediglich Aussagen der Patient*in übernommen worden sind. Insofern laufen selbst engagierte Ärzt*innen Gefahr, dass auch wenn sie die notwendigen Voraussetzungen für eine ärztliche Attestierung der Behandlungsbedürftigkeit herstellen, inhaltlich qualifiziert sind und formal professionell handeln, sie formal-administrativen Hürden gegenüberstehen.

Rasande Tyskar / CC-BY NC 2.0

Rasande Tyskar / CC-BY NC 2.0

Fallbeispiel 2:

Eine Mutter, Analphabetin, präsentiert ihre drei Söhne als Kinder eines in Tschetschenien tätigen Landwirtes, der von russischen Militärs inhaftiert worden und seither verschwunden sei. Da nach tschetschenischem Recht die Kinder der Familie des Vaters zugesprochen werden, flieht die Mutter nach Zentraleuropa und verbringt nach einer Zeit im Flüchtlingscamp mehrere Monate in der Obdachlosigkeit, bevor sie weiter nach Deutschland migriert, hier einen Asylantrag stellt und in Zeltstädten der Jahre 2015/16 untergebracht wird. Alle drei Söhne zeigen PTSD-Symptome mit erheblicher motorischer Unruhe und Impulsivität, der Jüngste weist eine allgemeine Entwicklungsverzögerung auf. Nach Transfer in eine Folgeunterkunft dekompensiert die Mutter und wird für mehrere Wochen stationär aufgenommen.

Die Kinder werden durch die Jugendhilfe betreut, hier berichten sie erstmals über die Zeit der Obdachlosigkeit und den Hunger in Frankreich, die Messerstecherei in den Zeltstädten und über die mehrfachen gewaltsamen Kontrollbesuche Uniformierter in ihrer Wohnung in Tschetschenien. Der Entlassbrief der Mutter enthält selbige Informationen. In der eingeleiteten Psychodiagnostik der Kinder ergeben sich Hinweise für Hyperarousalsymptome im Zusammenhang mit Begegnungen mit Polizei und Sicherheitsdienst, es werden Szenen von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Männern symbolisiert und die älteren Brüder berichten von intrusiven Bildern von Uniformierten. Die Kinder werden unter begleitender Elternberatung zunächst einer stabilisierenden Gruppe, anschließend Einzelpsychotherapeuten zugeführt, im Rahmen einer ersten Ablehnung des Asylantrags der Mutter wird eine ärztliche Stellungnahme für jeden Jungen verfasst. Der Antrag wird abgelehnt mit der Begründung, die Ärztin habe keinen Nachweis darüber erbracht, dass der Vater tatsächlich von russischen Militärs entführt worden sei, zudem fehlten Belege über die Obdachlosigkeit der Mutter.

Eine Folgeargumentation nach Ablehnung durch das BAMF ist wieder mit zeitlichem Aufwand verbunden, der zulasten der Behandlungszeit geht – mit ungewissem Ausgang. Auch in sozialmedizinischen Verfahren sind bisweilen rechtliche Auseinandersetzungen zur Klärung des adäquaten medizinischen Sachverhaltes mit den Sozialbehörden erforderlich, jedoch finden hier Ärzt*innen und Patient*innen Unterstützung durch entsprechende Lobbyverbände und zivilgesellschaftliche Einrichtungen. In asylrechtlichen Verfahren gibt es für niedergelassene oder stationär tätige Ärzt*innen im Gegensatz zu den in der BAFF (Bundesverbandes für psychosoziale Behandlungszentren in Deutschland) organisierten, überwiegend spendenfinanzierten psychosozialen Behandlungszentren, nur eine relativ kleine, allenfalls regional engagierte Lobby, die für ein zeitlich ausreichend großes Diagnostik-Fenster und die unter Umständen notwendig werdende argumentative juristische Folgearbeit zur Verfügung steht.

Unter dem Dach des Bundesverbandes für psychosoziale Behandlungszentren in Deutschland (BafF) findet sich eine Reihe von Zentren, die für die Erstellung von Begutachtungen psychoreaktiver Störungen in Aufenthaltsverfahren konsultiert werden können. Ihr Schwerpunkt liegt jedoch oft in Beratung und Behandlung, da sich mit der patientenorientierten Arbeit leichter Gelder einwerben lassen, als für die komplexe und damit kostenintensive juristisch-medizinische Begutachtungstätigkeit. Gegenüber der psychotherapeutisch-psychiatrischen Behandlung von Geflüchteten ohne Aufenthaltstitel kommt verkomplizierend eine erhebliche Ambivalenz auf Seiten der Behandler hinzu, die sich auf die Rahmenbedingungen für eine gelingende Behandlung bezieht: Vielerorts wird ein sicherer Aufenthaltsstatus zur Bedingung für die Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung gemacht – mit der Folge, dass gerade den Menschen die ärztlich-psychotherapeutische Behandlung verwehrt wird, die sich in existenziellen Notlagen und Gefährdungsmomenten und mithin einer „akuten Exazerbation“ [1] ihrer psychiatrischen Krankheitssymptome befinden, die ihrerseits wiederum einer strukturierten, chronologischen und juristisch nachvollziehbaren Darstellung ihres Leidenswegs im Asylverfahren entgegen stehen.

Zusammengefasst ergibt sich folgender Diskussionsbedarf für Ärztinnen und Ärzte mit Blick auf die Behandlung von Menschen in unsicherer aufenthaltsrechtlicher Situation:

  • Wie ist die Ablehnung von Behandlungen psychiatrisch kranker Menschen aufgrund ihres aufenthaltsrechtlichen Titels diskriminierungssensibel zu bewerten?

  • Welchen Diskurs braucht die Ärzteschaft mit aufenthaltsrechtlichen Behörden, um einen Rechtsstaatlichkeit sichernden Prozess zu befördern, der einerseits die Behandlungsbedürftigkeit der Patient*in und andererseits die rechtlich gesetzlichen Rahmenbedingungen im Aufenthaltsverfahren berücksichtigt?

  • Wie ist eine Entlastung der Ärzteschaft zu bewerkstelligen, die einen Heilauftrag hat und sich gleichzeitig gezwungen sieht, Rahmenbedingungen für die Behandlung ihrer PatientInnen in einem hochaufwendigen Prozess ärztlicher Stellungnahmen gegenüber dem Bundesamt zur verargumentieren?

Die Migrationsbewegung der Jahre 2015 und 2016 hat nicht nur die integrierenden Kompetenzen im Wirtschafts- und Sozialbereich herausgefordert, sondern auch die Notwendigkeit eines kritischen Diskurses um die Wahrung von Menschlichkeit und den Schutz für besonders vulnerable, psychisch Kranke in die Ärzteschaft hineingetragen. Sie erinnert uns auch daran, neben unseren unternehmerischen und inhaltlich professionellen Verpflichtungen als Ärzt*innen soziale Verantwortung für unsere Patient*innen zu übernehmen. Ärztliche Berufsverbände und die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern sind daher aufgerufen, die Verschiebung der juristischen Beweisführung von Behandlungsbedürftigkeit Geflüchteter in den Versorgungsauftrag von Ärzt*innen zu problematisieren, an den humanistisch begründeten, unabhängigen Heilauftrag von ÄrztInnen zu erinnern und das Primat von Rechtstaatlichkeit auch und gerade in Asylverfahren an die Judikative zurück zu delegieren.

[1] Schlagartig deutliche Verschlechterung des Krankheitsbildes bei chronisch verlaufenden Erkrankungen

Dr. M. Nitschke-Janssen ist IPPNW-Mitglied, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Master of Peace Studies. Sie leitet eine interkulturelle sozialpsychiatrische Versorgungspraxis mit Zweigstellen für transkulturelle Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters und Vor-Ort-Sprechstunden in Erstaufnahmen für Geflüchtete. Sie ist Mitglied im Arbeitskreis Migration der DeGPT, Gutachterin in aufenthaltsrechtlichen Verfahren/Ärztekammer Hamburg und Dozentin an Aus- und Weiterbildungsinstituten.

Zum Report: Gesundheitliche Folgen von Abschiebung – https://issuu.com/ippnw/docs/report_gesundheitliche-folgen-abschiebung_final_we