Rede auf dem Anti-Atomwaffen-Spaziergang am Fliegerhost Büchel
Liebe Mitstreitende und Aktivistis, ich wurde gebeten, hier im Angesicht eines Atomwaffenstützpunktes etwas über Atomwaffen und Ethik zu sagen. Ich muss zugeben, dass mir das sowohl emotional als auch gedanklich schwerfällt. Emotional ist es schwer, weil einerseits dieser Zaun in seiner dünnen Durchsichtigkeit das von ihm verborgene Gewaltpotential nicht recht darstellen kann, eigentlich vergleichsweise harmlos wirkt; und andererseits, weil das Bewusstsein über die apokalyptische Funktion dieser Anlage eigentlich verbietet, sie mit Reden zu ehren, sondern eher Ächtung und Widerstand herausfordert. Dazu kommt außerdem die gedankliche Schwierigkeit, dass diese emotionale Verwirrung auch aus der Entfernung allenfalls verdrängt, nicht aber wieder gänzlich geordnet werden kann. Die Möglichkeit, durch menschliches Handeln, oder sogar einfach durch tadellosen Dienst nach Vorschrift vom einen
auf den anderen Moment eine menschliche Apokalypse einläuten zu können, ist in einer absurden Weise grauenvoll. Und dieses absurde Grauen stört jede nüchterne Überlegung – bei manchen sogar so weit, dass sie es für einen Frieden im Gleichgewicht des Schreckens halten.
Mit der Identifikation dieser Schwierigkeiten sind wir aber wohl schon mitten im Thema: Ethik und Atomwaffen. Atomwaffen und ihre Lagergebäude sind zwar herstellbare Objekte wie viele andere, über deren Nutzung man ethisch nachdenken kann. Aber in ihrem apokalyptischen Potential sprengen sie auch gedanklich den Rahmen, in dem ethische Überlegungen eigentlich sinnvoll sind. Eine Tat, die in ihren unmittelbaren Folgen beliebig wenig menschliche Zivilisation übrig lässt, die sie ethisch beurteilen könnte, kann ethisch eben kaum beurteilt werden. Eine solche Tat, die in diesem apokalyptischen Szenario automatisch schon zu vielen Taten und Gegenschlägen geworden wäre, ist nicht verantwortbar: Es wäre kaum jemand übrig, die mit genaueren Informationen zum Hergang Verantwortung fordern könnten. Und es wäre auch kaum jemand übrig, die sich noch verantworten könnten. Die Entfesselung dieses militärisch wiederholt angedrohten und vermutlich strikt geplanten apokalyptischen Szenarios wäre keine beurteilbare und irgendwie verantwortbare Tat in der menschlichen Welt, sondern eine beliebig große Zerstörung dieser menschlichen Welt, in der Urteile und Verantwortung irgendeine Geltung haben können. Es bleibt also ethisch nur zu sagen, dass diese Möglichkeit nicht Wirklichkeit werden darf, soll Ethik als gemeinsames menschliches Nachdenken über gutes und schlechtes Handeln überhaupt möglich bleiben.
Günther Anders hat versucht, diese absurde Möglichkeit der atomaren Apokalyptik zu durchdenken, auch auf der Suche nach so etwas wie ethischen Handlungsempfehlungen. Die deutlichste Forderung, die er aus seinen Überlegungen zieht, ist ein Aufruf zur Angst: Angst ist im atomaren Zeitalter nichts schlechtes, Angst ist eine Tugend. Allerdings meint er keine vereinzelte Angst, in der man nur das eigene Überleben gegen alle anderen zu sichern versucht. Vielmehr ist diese tugendhafte Angst die Bereitschaft, dieser absurden apokalyptischen Gefahr ins Auge zu sehen, sie zu benennen und im Sinne der Möglichkeit eines guten Lebens darauf zu reagieren. Es geht also darum, diese unverantwortbare Möglichkeit einer menschenmachbaren Apokalypse nicht zu verdrängen, sondern sie öffentlich zu benennen und an ihrer Verhinderung mitzuwirken. Eben dies erscheint auch mir die einzige lautere Möglichkeit zu sein, über Ethik und Atomwaffen zu sprechen. Ich freue mich, dass ich mich damit heute in so guter und zahlreicher Gesellschaft befinde.
Leider ist es aber mit dieser öffentlichen Darstellung des Widerstands in diesen Tagen kaum getan. Fragt man nach ethischem Handeln, und nicht nur nach guten Glaubenssätzen, dann sollte man nicht bei einer bloßen Ablehnung stehenbleiben. Dies übrigens schon allein, weil in dieser Ablehnung ja kaum jemand widerspricht. Vielmehr betrachten es die Atommächte ja gewissermaßen als ihre private Aufgabe, diese Katastrophe durch ihre glaubhafte Androhung eigenmächtig zu verhindern.
Es ist deshalb zwar enorm wichtig, dass dieses symbolische Zeichen gegen diese wahnwitzige Möglichkeit hier gesetzt wird, und auch dass es als ein Zeichen und Anliegen im Namen menschlicher Gesellschaft gesetzt wird, statt nur als solches einer einzelnen Partei, Regierung oder Nation. Aber dies ist eigentlich nur das Mindeste, was ethisch gegenüber der nuklearen Drohkulisse gefordert werden kann. Es muss neben dieser Notwendigkeit, dass eine nukleare Katastrophe nicht eintreten darf, auch um Möglichkeiten gehen, dies gewährleisten und versprechen zu können. Der Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen ist ein Beispiel für den Versuch einer solchen Gewährleistung, weil er die Verhinderung der nuklearen Katastrophe wieder zu einer Aufgabe der Vereinten Nationen und der gesamten Menschheit macht.
Aber wenn man ihn liest, zeigt sich auch, dass eine solche konkretere Möglichkeit immer komplex ist, und den Mut zur diskursiven Auseinandersetzung, wie auch eine gewisse Kompromissbereitschaft
erfordert. Im Sinne dieser Komplexität gehört zu den weiterführenden Überlegungen auch: Die aktuell vielfach propagierte Zeitenwende, die die russische Führung durch ihren Angriff auf die Ukraine provoziert, und auch bereits durch kriegerische und sogar nukleare Drohungen gen Westen
vorangetrieben hat, schränkt unsere Möglichkeiten zugunsten einer atomwaffenfreien Welt aktuell merklich ein. Gesellschaftliche und politische Veränderungen werden nicht nur durch symbolischen Widerstand verwirklicht, sondern vor allem durch wirksame Kooperationen und auch die Arbeit im
Detail, und in einem ‚neuen kalten Krieg‘ ist solche Kooperation und Arbeit zwischen den kalten Kriegsparteien allenfalls minimal möglich.
Zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren und Institutionen bleibt eine solche Kooperation aber sehr wohl möglich, auch über National– und Militärbündnis–Grenzen hinweg. Und wenn wir uns das ethische Grundproblem des apokalyptischen Potentials von Atomwaffen in Erinnerung rufen, so stößt uns dies auch auf einige mögliche Kooperationspartner:innen, die in dieser Hinsicht gewissermaßen Geschwister im Geiste sind. Ich meine solche Gruppen, die auf einige der anderen krisenhaften und potentiell katastrophalen Probleme reagieren, die weltweit bestehen und die von staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren oft seit Jahrzehnten hoffnungslos vernachlässigt werden, wie der Klimawandel, das Artensterben, die destruktive Abhängigkeit vom Raubbau an
endlichen Ressourcen und einige andere. Alle diese potentiell katastrophalen Krisen betreffen uns gemeinsam, aber eben deshalb können sie auch gemeinsam angegangen werden. In dieser Möglichkeit der Kooperation für das gemeinsame Anliegen, ein gutes Leben für alle auf diesem Planeten, sowie Ethik als die gemeinsame Auseinandersetzung über die Ausgestaltung dieses Lebens
auch zukünftig zu ermöglichen; in dieser Möglichkeit der Kooperation liegt meines Erachtens ein großes Potential, einer atomwaffenfreien und auch sonst lebenswerten Welt für alle näher zu kommen.
Sebastian A. Höpfl ist Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg. Die Rede hielt er am 9. juli 2022 in Büchel.