
Newroz 2025. Foto: Xenion e.V.
Zur Verhaftung von Ekrem İmamoğlu und zur aktuellen Imrali-Initiative
Mit Blick auf die aktuelle Inhaftierung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu hoffen unsere Gesprächspartner*innen, ihre Stadt möge von erneuter Zwangsverwaltung zumindest noch länger verschont bleiben. Auch sie müssten jedoch parallel zu ihren langfristigen Sozial- und Infrastrukturprojekten weiterhin Sozialhilfe auszahlen, damit die Gesellschaft „nicht ganz zusammenbricht“.
Auf den MHP-Vorstoß angesprochen erklärt die Co-Oberbürgermeisterin von Diyarbakir, Devlet Bahçeli habe Abdullah Öcalan aufgefordert, im Parlament zur Terrorfrage Stellung zu beziehen. Bahçeli habe sich dabei aber ausdrücklich nicht auf die kurdische Frage bezogen. Daher spreche die DEM-Partei nicht von einem Friedens-, sondern von einem Gesprächsprozess. Seit 1993 habe es immer wieder einseitige Waffenstillstandsangebote der kurdischen Seite gegeben. Warum Devlet Bahçeli „das Buch jetzt mittendrin aufschlage“, sei unklar. Am 27. Februar 2025 sei in Istanbul die Offerte Abdullah Öcalans vor über 400 Journalist*innen verlesen worden. Gemeint sein könne damit jedoch nur ein Prozess, der an Bedingungen und Verhandlungen geknüpft sei. Inzwischen seien über 20 Tage vergangen, ohne dass ein Zeichen aus Ankara gekommen sei. Die Repression gehe ja unvermindert weiter. Die Verhaftung von Ekrem İmamoğlu und die drohende Zwangsverwaltung von Istanbul seien nur eine weitere von vielen Eskalationen. „Wir sind besorgt, wie die EU immer so schön sagt.“ Nicht nur für Abdullah Öcalan, sondern auch für die Frauen und die Gesellschaft sei Demokratie mehr als nur die kurdische Frage. Die kurdisch-multiethnische Bewegung sei die säkularste im Nahen Osten. „Wir haben große Bedenken, aber auch Hoffnung. Sie kommt aus unserem gerechten Kampf.“
Gleich am 20. März 2025 seien die Bürgermeisterinnen von Diyarbakir nach Istanbul geflogen, um ihre Solidarität mit Oberbürgermeister İmamoğlu zu bekunden. Als am 22. März die ersten großen Protestdemonstrationen in Istanbul stattfanden, habe die DEM-Partei ihre Anhängerinnen noch nicht auf die Straße gerufen. Im Parlament habe die CHP für die Immunitätsaufhebung kurdischer Parlamentarierinnen gestimmt. Sie habe nicht zu Protesten aufgerufen, als es zur brutalen Wiedereinsetzung von Zwangsverwaltungen in den kurdischen Gebieten gekommen sei. Deshalb sagen unsere kurdischen Begleiterinnen, dass die CHP erst zeigen müsse, wie ernsthaft sie an einer Demokratisierung und der Lösung der türkisch-kurdischen Frage interessiert sei.
Unsere Freund*innen vor Ort haben am 26. März 2025 ein Panel aus verschiedenen NGOs organisiert. Auch hier wird viel von der schieren Notwendigkeit eines Friedensprozesses gesprochen, ebenso von den verschiedenen Angeboten und Waffenstillständen der kurdischen Seite. Es sei bekannt, dass es vor dem 27. Februar 2025 ein Jahr lang Geheimgespräche gegeben habe. Abdullah Öcalan habe sich dahingehend geäußert, dass dieser Prozess gescheitert sei, wenn es nicht innerhalb einer Woche nach seiner Erklärung eine Reaktion aus Ankara gäbe. Dieses Entgegenkommen sei jedoch nicht erfolgt.
Vom Menschenrechtsverein IHD kommt die Einschätzung: „Es sieht nicht gut aus. Die türkische Seite will sich nicht an Bedingungen halten.“ Zu diesen Bedingungen gehöre die Aufarbeitung der Geschichte, die Klärung von Morden und Verschwindenlassen, die Auflösung der Zwangsverwaltungen sowie die Wiedereinsetzung der gewählten Vertreter*innen. Auch die Freilassung der politischen Gefangenen sei eine Voraussetzung.
„Wir brauchen eine zivile Verfassung, die gutes Zusammenleben ermöglicht.“ Von soziologischer Seite wird betont, dass eine politische Lösung nur schrittweise erreicht werden könne. Zuerst müssten jedoch „die Ungleichheit und die Verleugnung kurdischer Existenz“ aufgehoben werden. Die Türkei brauche eine radikale Demokratisierung. Ein Gewerkschaftler unterstreicht: „Die Türkei braucht einen völlig neuen Gesellschaftsvertrag.“ Das Forschungsinstitut DISA hebt hervor, dass eine Waffenniederlegung den Kampf auf demokratischen, zivilen Wegen fördern würde. „Davon sind wir jedoch noch weit entfernt. Das geht nur peu à peu.“ Glaubhaft sei zunächst nur die Erklärung von Abdullah Öcalan, die von der kurdischen Gesellschaft überwältigend positiv aufgenommen worden sei.
Bewegend ist der Beitrag eines Menschenrechtsaktivisten: „Was in anderen Ländern in 100 Jahren geschieht, erleben wir hier in zehn Jahren. … Wir wissen, wie wichtig der Frieden ist. Wir haben unser Leben lang nach den Vermissten und den Gräbern der Toten gesucht. Unsere Mütter und Väter sind gestorben, ohne sich von ihren toten Kindern an einem Grab verabschieden zu können. Dieser Schmerz durchzieht unser Leben. Er ist das Vermächtnis unserer Mütter, die in Trauer gestorben sind. … Wir haben die Erinnerung an deutsche Panzer, die Leichen durch die Straßen zogen.“
Vom Frauenverein Rosa kommt die Einschätzung, Bahçeli habe als Sprecher des tiefen Staates gehandelt. In der Neugestaltung des Nahen Ostens solle die Türkei von den gestaltenden Mächten USA und Israel kleingehalten werden. „Darum kann die Türkei keinen inneren Krieg gebrauchen.“ Auch eine andere Panelteilnehmerin beschreibt die aktuelle Situation als Paradigmenwechsel, der sich auch am Sturz des Assad-Regimes in Syrien zeige. Die bisher 100-jährige Geschichte von Irak, Syrien und Libanon befinde sich an einem Wendepunkt. Die Türkei habe in ihrem ebenfalls 100-jährigen Bestehen immer versucht, die Rolle einer Regionalmacht zu spielen. Jetzt versuche Präsident Erdogan zu tricksen – er wolle im Nahen Osten Einfluss gewinnen, ohne auf die Kurd*innen zuzugehen.
Seitdem die „Schia-Achse“ Iran, Irak, Libanon, Syrien durch den Krieg Hamas vs. Israel geschwächt sei, befinde sich der Iran in einer Umzingelung. „Alles deutet auf eine Neuordnung des Nahen Ostens hin. Dabei möchte Präsident Erdogan eine Rolle spielen.“
Dr. Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied.