„Die Regierung muss wieder einen demokratischen Weg beschreiten“

IHD-Logo (Illustration: IPPNW)

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Onlinegespräch mit dem Menschenrechtsverein IHD in Diyarbakir am 26. März 2021

Trotz technischer Probleme und abbrechender Verbindung ist unsere Sitzung mit Abdullah Zeytun aus dem Vorstand des Menschenrechtsvereins IHD Diyarbakir konzentriert und reich an Informationen. Er berichtet, dass seit 2016 für die Opposition alle Demonstrationen und Erklärungen im Freien verboten sind. IHD kann also weiterhin nur Presseerklärungen im eigenen Büro abgeben. Neu sei, dass Polizei und Sicherheitskräfte fast täglich ins IHD-Büro eindringen, um Erklärungen und Aktionen direkt mitzuschneiden und Listen der Teilnehmer*innen zu erstellen. Gegen Kolleg*innen liefen Verfahren. Es habe auch einige Freisprüche gegeben. Niemand von ihnen sei zur Zeit im Gefängnis..

Isolationshaft versus Sammelzellen

Auf unsere Frage nach den Gefangenen berichtet Zeytun, dass vor einem Monat eine große Delegation von IHD und Anwälten verschiedene Gefängnisse besucht habe. Sie haben Ahmet Altan, die Ex-HDP-Vorsitzenden Dermirtas und Kisanak und viele andere besuchen können. Die Gefängnisse entsprächen nicht den Menschenrechts-Voraussetzungen. Die Justiz sei abhängig von der Regierung. Die Delegation habe in ihrem Bericht die Regierung scharf kritisiert. Die Regierung müsse wieder einen demokratischen Weg beschreiten. Die Gefangenen seien voller Energie. Sie hätten viele Fragen, machten Vorschläge und Analysen. Sie seien gesund.

Die Aktivistinnen vom Frauenverein „Rosa“ hatten uns von überfüllten Zellen und unhygienischem Bedingungen trotz Corona bei ihren Verhaftungen berichtet. Zeytun erklärt diesen Unterschied zu den alten Sammelzellen durch die neuen Typ-F-Gefängnisse wie Silivri. Dort gäbe es Einzelzellen und Kleingruppen von zwei oder drei Gefangenen. Die Häftlinge hätten zwar ein Recht auf Besuche im Sport- oder Hobbyraum. Manchmal könnten sie auch Mithäftlinge treffen. Diese Rechte seien früher immer wieder durch Sonderregelungen gestoppt worden oder als Sanktion, seit der Pandemie aber umfassend und andauernd. Von der Hygienesituation in anderen Gefängnistypen hätten sie ein heterogenes Bild. Das IHD-Büro in Diyarbakir sei vor allem für das dortige und das riesige Gefängnis in Elâzığ zuständig. Vor einem Monat habe es dort zwölf Fälle von Covid-19 bei Insassen gegeben. Diese seien sofort isoliert und behandelt worden. Von Todesfällen wisse er nicht. Allerdings habe der IHD nur zu begrenzten Zeiten selbst Zugang zu den Gefangenen. Eine Informationsquelle seien vor allem Angehörige.

Die Samstagsmütter

Es habe eine lange Tradition, die Mütter und Angehörigen von Verschwundenen durch Repression aus dem öffentlichen Bewusstsein zu drängen. Wie der in Istanbul vor dem Galatasaray-Gymnasium sei der Gruppe in Diyarbakir mit dem Ausnahmezustand und den Protestverboten im Freien 2016 ihr traditioneller Samstagsplatz vor dem Kusuoglu-Park verboten worden. Daraufhin trafen sich die Mütter im IHD-Büro. Dies wurde seit einem Jahr mit Corona-Auflagen verboten. Allerdings gäbe es „die Samstage“ jetzt online, indem jede Woche die Geschichte eines oder einer Verschwundenen von Familienangehörigen erzählt wird. Das Versammlungsverbot für die Mütter trotz Maske und Abstandsregeln aber aktuell mit Corona-Auflagen zu begründen, sei mehr als einseitig. Gleichzeitig fänden nämlich AKP-Parteitage in geschlossenen Räumen in großer Menschenzahl ohne Abstandsregelungen statt. In Istanbul habe jetzt der Prozess gegen die Samstagsmütter begonnen, die 2019 zahlreich zu ihrer damals 700. Mahnwache vor dem Gymnasium erschienen waren.

Mütter, die vor dem HDP-Büro demonstrieren

IHD stehe landesweit für demokratische Lösungen und Dialog ohne Gewalt. Dass Mütter und Angehörige ihre (erwachsenen) Kinder von der PKK zurückhaben wollen, sei ein legitimer Standpunkt, betont Zeytun. Doch sehe er in den öffentlichkeitswirksamen Versammlungen dieser Gruppe vor dem Eingang zum HDP-Büro in Diyarbakir zwei Probleme. Es stelle sich der Eindruck von Propaganda ein, da die Regierung diese Versammlung unterstütze und Angehörige offiziell dorthin transportiere. Auch sei es problematisch, dass so die HDP immer mit der PKK und mit Gewalt gleichgesetzt werde. Besonders problematisch und belastend sei es, wenn Angehörigen in dieser Versammlung unvorbereitet der Tod eines Kindes mitgeteilt würde. Es handele sich bei diesen Veranstaltungen für ihn um eine „Wahrnehmungsoperation“.

Gewalt ist keine Lösung

IHD habe mehrfach Angebote gemacht, mit Betroffenen in Dialog zu treten, auch mit Angehörigen, deren Kinder in der Armee oder bei den Sicherheitskräften getötet wurden, doch seien diese Angebote niemals aufgegriffen worden. Das Leid dieser Familien berühre. „Wir wollen den Dialog“ –  so habe IHD sich auch damals als Vermittler angeboten, ernsthaft Gespräche zu führen, als vor Jahren Angehörige von Militär, Polizei oder Gefängnispersonal von

der PKK als Geiseln genommen wurden. Die Regierung habe abgelehnt. Aktuell seien nun genau diese Geiseln ums Leben gekommen, als die Regierung unlängst das PKK-Camp in Gare angriff. „Wir sind sehr traurig über diese Toten. Wir wollten viele Kanäle öffnen, wollten verhandeln, beide Seiten zusammenbringen, weil wir an friedlichen, politischen Lösungen arbeiten.“ Zeytun betont, Gewalt sei keine Lösung.

Frauen-und Kinderrechte

Auf unsere Frage nach dem Missbrauchsthema in religiösen Einrichtungen in der Türkei, dem wir vor zwei Jahren erstmalig begegneten, berichtet Zeytun von einem aktuellen Fall in einer Koranschule in Diyarbakir. Allerdings räumt er ein, hier Selbstkritik üben zu müssen. IHD sei so auf die politischen Gefangenen, die militärische Auseinandersetzung und auf die Kurdenfrage fokussiert, dass Kinderrechte und sexueller Missbrauch hintan stünden.

Die Aufkündigung der Istanbul-Konvention wundere ihn nicht, so wie die Regierung mit dem Genderthema, der Gleichheit von Mann und Frau oder mit LGBTQ umgehe. Die Grundwerte der AKP seien patriarchalisch und islamistisch. Dass Gewalt gegen Frauen ansteige, habe auch eine Ursache in der Parteilichkeit der Justiz. Es sei das Verdienst der Frauenbewegung gewesen, dass die Türkei als eines der ersten Länder der Welt die Istanbul-Konvention unterschrieben habe. Nicht nur Frauen- auch die Menschenrechtsgruppen würden weiter für die Konvention arbeiten.

Menschenrechtsgruppen müssen zusammenkommen

Zeytun kritisiert, dass die Türkeipolitik der EU Menschenrechte immer weniger abbilde, sondern rein auf wirtschaftlichen Gewinn fixiert sei. Es seien Menschenrechtsgruppen und NGOs, die versuchten Dialogwege offenzuhalten. Er hoffe, uns im nächsten Jahr wiederzusehen, „gesund und frei“.

Dr. Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied.