Raketenabwehr: Alle an Bord?

Xanthe Hall, IPPNW-Referentin für Atomwaffen und Internationales

Xanthe Hall, IPPNW-Referentin für Atomwaffen und Internationales

Die Pläne einer Nato-Raketenabwehr für Europa sind ein brisantes Politikum. Dabei geht es weniger darum, ob sie mehr Sicherheit bringt, ob sie funktioniert oder zu viel kosten würde. Wichtiger sind folgende Fragen: Würde die Raketenabwehr die Beziehungen zu Russland beschädigen? Kann die Türkei Mitglied in der EU werden und können die Ängste der Osteuropäer vor Russland entkräftet werden. Und dann noch: Fördert eine Raketenabwehr die Abrüstung der Atomwaffen oder eher nicht?

Hinter all diesen Fragen stecken eher versteckte ökonomische Fragen. Alle Nato-Mitgliedsstaaten reduzieren ihre Verteidigungshaushalte (wobei die Kürzungen in anderen Haushaltsbereichen meistens viel drastischer ausfallen). Doch für die USA stellt sich die ökonomische Frage anders. Sie möchten gerne ihre Raketenabwehr verkaufen, wenigstens Teile der Milliarden zurück bekommen und Kontrolle erhalten. Die Lobby für die Raketenabwehr in den USA ist mächtig und hat signifikante Auswirkungen auf die Wähler und das Stimmverhalten der Repräsentanten und Senatoren im Kongress.

Sicherheit für Europa?
Von zentraler Bedeutung für die Frage, ob die Raketenabwehr mehr Sicherheit bringen würde, ist, von welcher Bedrohung ausgegangen wird. Die Bedrohungsanalyse des „Ballistic Missile Defense Review Report“1 der US-Regierung, sieht die Gefahren im Nahen- und Mittleren Osten, ganz konkret aus dem Iran, weil dort mit Nachdruck an Raketen gearbeitet werde. Die Bedrohung sei für Europa am stärksten, da es in Reichweite von Kurz- und Mittelstreckenraketen liege, so der Bericht. Andererseits besitzt kein Land außer Russland und China Raketen mit einer Reichweite, die die USA bedrohen können. Trotzdem wird auch dazu eine Abwehr gebaut, um sich auf eine künftige, mögliche Gefahr vorzubereiten.

Die Gefahren wirken nicht nur überzogen dargestellt, sie werden zugleich geschürt. Durch die ständige Rede vom Iran als einer Bedrohung für Europa, wird ein Feindbild gepflegt. Europa macht sich ebenfalls zum Gegner Irans und gibt seine Vermittlerrolle (die ohnehin fraglich war) damit ab. Das führt dazu, dass sich der Iran nicht nur von den wiederholten Androhungen der Atomwaffenmacht Israel, die Atomanlagen des Iran anzugreifen, bedroht fühlt. Entsprechend geißelt er die Nato-Raketenabwehr als Schutz Israels2.

Eine zweite große Gefahr ist nach Einschätzung einiger osteuropäischer Staaten – vor allem im Baltikum – Russland. Nach dem Konflikt in Georgien suchen diese Länder vermehrt den Schutz der USA und der Nato. Da die Stationierung von Atomwaffen auf den Territorien der neuen Mitglieder in den 1990er Jahren ausgeschlossen wurde und auch politisch von den meisten Nato-Mitgliedern nicht gewünscht wird, bleibt neben dem nuklearen Schirm die Raketenabwehr als Trostpflaster. Dennoch waren einige alte Mitgliedsstaaten gegen diese Option, einschließlich Deutschland. Denn zuerst wollte die Regierung George W. Bushs die Raketenabwehr durch bilaterale Vereinbarungen in Osteuropa gegen den Willen Russlands aufbauen. Es wurde eine massive Verschlechterung der Beziehungen zu Russland befürchtet. Deutschland argumentierte immer für die Einbeziehung: Wenn überhaupt eine Raketenabwehr, dann lieber mit der Nato und mit Russland zusammen. Somit könnte ein Raketenabwehrsystem von Vancouver bis Wladiwostok entstehen, was das Problem ost- und südwärts verschöbe.

Fördert die Raketenabwehr die Abrüstung?
Die Frage, die man kaum noch hört ist, ob die Raketenabwehr überhaupt funktioniert?3 Seitdem US-Präsident Obama am 17. September letzten Jahres erklärte, die USA würden eine neue Raketenabwehr bauen, die „stärker, schlauer und schneller“ sei, ist die Frage der Tauglichkeit vom Tisch. Nur weil die Abfangraketen auf mobilen Trägersystemen oder auf Schiffen stationiert sind, heißt das nicht, dass sie 100% ihrer Ziele treffen können. Es mag ja stimmen, dass sie besser funktionieren, weil sie näher dran sind und die Raketen eher in deren Startphase als beim Anflug treffen, aber eine Rest-Verwundbarkeit bleibt. Deswegen äußerte Frankreich große Skepsis4 und hält die atomare Abschreckung nach wie vor für notwendig.

Der Streit zwischen Deutschland und Frankreich über das Wort „Abrüstung“ in der Nato-Strategie dreht sich um diese Frage. Denn Obamas Nukleardoktrin deutete darauf hin, dass eine Zustimmung der Europäer für eine Raketenabwehr mehr Abrüstung bedeuten könnte. Hillary Clinton bekräftigte diese Idee in Tallinn5. Bekanntlich will Deutschland den Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa und sieht in einem Junktim Raketenabwehr und atomare Abrüstung eine Möglichkeit, in der Sache voran zu kommen.

Auf der anderen Seite gibt es starke Stimmen in der Nato, die beides wollen: Die Raketenabwehr UND die Atomwaffen. Rasmussen gehört zu dieser Gruppe, die meint „sicher ist sicher“. Frankreich und Großbritannien signalisieren mit ihrem neuen Kooperationsvertrag6, dass sie ihre Atomwaffen für mindestens weitere 50 Jahre beizubehalten gedenken. Dass die Raketenabwehr die atomare Abschreckung ersetzen wird ist also eine Illusion. Dieser trügerische Traum von Ronald Reagan ist politisch nicht durchsetzbar. Aber noch wichtiger ist fest zu halten: Mehr Rüstung bringt keine zusätzliche Sicherheit, sie führt nur zu mehr Feindschaft. Denn wer ein Raketenabwehrsystem baut, bringt den Feind dazu, auch mehr Raketen zu bauen.

Raketenabwehr: neuer „Kitt“ der Nato
Bisher wurden die Atomwaffen als Unterpfand der Solidarität der Nato-Mitglieder verstanden, eben der „Kitt“, der die Nato zusammen hält. Durch den Abzug tausender Atomwaffen nach dem Kalten Krieg und dem erklärten Wunsch Deutschlands, atomwaffenfrei zu werden, ist dieser Kitt brüchig geworden. Die Nato sucht ein neues Identifikationselement, das die Idee des Artikel 5 verkörpert und die 28 Musketiere unter dem Motto „alle für einen und einer für alle“ vereint. Dafür bieten die USA die Raketenabwehr an.

Eine Nato-Raketenabwehr könnte zudem zusätzliche Partnerschaften zementieren, wie z.B. die „Partnerschaft für den Frieden“, die durch militärische Kooperationen weitere Länder mit der Nato verbindet. Sie könnte die Türkei näher an das Bündnis holen, die geostrategisch bestens platziert ist, wenn im Nahen und Mittleren Osten militärisch agiert werden sollte. Somit würde das System zum „Schutz“ des europäischen Nato-Territoriums von der türkisch-irakischen Grenze bis hin zum Nordkap reichen. Jüngst wurden in der türkischen Presse7 die Bedingungen für eine Stationierung einer Raketenabwehrstellung in der Türkei debattiert. Unter anderem war die Idee, die EU-Mitgliedschaft damit zu verkoppeln8.

Vor dem Nato-Gipfel in Lissabon gibt es Angebote aus Russland, in dieser oder jener Form bei der Raketenabwehr zu kooperieren9. Sollte es ein Einverständnis geben, würde die Nato im Osten bis China und durch die Türkei im Süden bis zum Nahen Osten durchgreifen. Denn die neue Raketenabwehr soll mit mobilen Sensoren arbeiten, die jegliche Vorbreitung auf einen Angriff registrieren und einen erheblichen militärischen Vorteil bedeuten.

„It’s the economy, stupid“10
Schließlich bleibt als treibender Faktor der Raketenabwehr die Wirtschaft. In den USA sind Boeing und Northrop Grumman die Hauptunternehmen, Sub-Unternehmer sind u.a. Raytheon, Lockheed Martin, und Orbital Sciences Corporation. Von der europäischen Version würden vor allem Raytheon und Lockheed Martin profitieren11.

Die Finanzkrise in den USA überschattet momentan die meisten anderen politischen Überlegungen. Aber eine Kürzung des Verteidigungshaushalts wird in den USA als ökonomisch nachteilig gesehen, weil die Rüstungsindustrie ein großer Arbeitgeber ist. Nicht zuletzt gilt es als politischer Selbstmord, die Rüstungslobby gegen sich aufzubringen. Also wird trotz aller gegenteiliger Argumente an der Raketenabwehr festgehalten.

Für die europäischen Staaten sind die wirtschaftlichen Vorteile dagegen geringer. Da auch die Nato-Mitglieder zur Kasse gebeten werden, gibt es erhebliche Bedenken vor den Kosten. Die Skepsis ist groß, ob die von Rasmussen verkündeten 200 Millionen Euro12 eingehalten werden können. Wie ein Kompromiss zwischen den USA und den europäischen Bündnispartnern über die Kosten aussehen wird, ist noch offen.

Die Bundesregierung bezieht bisher nicht offiziell Stellung zur Nato-Raketenabwehr. Sie erhofft sich eine relativ bescheidene und kostengünstige Version, die mit Russland zusammen entwickelt wird. Merkel versucht Medwedew und Sarkozy13 dazu zu gewinnen, in diese Richtung zu steuern.

Zu befürchten ist, dass wir eine von den meisten Europäern unerwünschte und teure Raketenabwehr bekommen. Es sei denn, das Volk erhebt sich gegen dieses Großprojekt, wie gegen Stuttgart 21. Zu befürchten ist aber, dass das Großprojekt Raketenabwehr für einen Massenprotest viel zu undurchsichtig bleibt.

Xanthe Hall, Abrüstungsexpertin der IPPNW

1. Ballistic Missile Defense Review Report, http://www.defense.gov/bmdr/docs/BMDR%20as%20of%2026JAN10%200630_for%20web.pdf
2. http://de.rian.ru/politics/20101116/257661244.html
3. Jüngste Ausnahme: http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/0,1518,727263,00.html
4. http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/ruestung-raketenschirm-morin-zieht-vergleich-mit-maginot-linie_aid_562169.html
5. http://www.tagesspiegel.de/politik/international/usa-bereit-zu-abzug-von-atomwaffen-in-europa/1693186.html
6. http://www.atomwaffena-z.info/atomwaffen-heute/atomwaffenstaaten/grossbritannien/aktuelles/artikel/1631/c70d02ecec/index.html
7. http://www.freitag.de/politik/1042-dezente-dissidenten
8. Vor dem Nato-Gipfel in Lissabon fordert Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Kontrolle über die auf türkischem Boden stationierte Raketenabwehr. Mag sein, dass die Nato in Lissabon die Nennung der Gefahr Iran statt dessen opfert, auch eine Forderung der Türkei. Siehe: http://nachrichten.freenet.de/politik/tuerkei-will-kommando-ueber-raketenabwehr_2149994_533316.html
9.http://de.rian.ru/security_and_military/20101116/257661428.html
10. Clinton Wahlslogan, 1992
11. Capaccio T: Lockheed, Raytheon Gain in Gates’s Europe Missile-Defense Plan, Bloomberg Business Weekly, 14.1.2010 http://www.businessweek.com/news/2010-01-14/lockheed-raytheon-gain-in-gates-s-europe-missile-defense-plan.html
12. http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~EA0993D63ECFE4D3BA6CF351E2555D97C~ATpl~Ecommon~Scontent.html
13 http://www.focus.de/politik/ausland/dreiertreffen-moskau-zu-gespraechen-ueber-raketenabwehr-bereit_aid_563521.html