
Foto: Marlene Pfaffenzeller
Nach meinem Besuch der überwiegend von Jesiden bewohnten Flüchtlingslager in Silopi und Diyarbakir im vergangenen Jahr wollte ich in diese Region zurückkehren, um mich über die aktuelle Situation und über sinnvolle Unterstützungsmöglichkeiten der in der Krisenregion lebenden Menschen zu informieren. Informationen zur komplexen politischen Lage, wie sie sich mir durch Gespräche mit verschiedenen Menschen vor Ort dargestellt hat, möchte ich meinem Reisebericht voranstellen:
Irak
In den kurdischen Autonomiegebieten im Nord-Irak ist noch die KDP (Kurdische Demokratische Partei) mit dem Präsidenten Barsani an der Macht. Neuwahlen sind überfällig, die PUK (Patriotische Union Kurdistans) vom Stammesfürsten Talabani hat wahrscheinlich schlechte Chancen. Dschalal Talabani sei in einem gesundheitlich schlechten Zustand, angeblich soll er im Rollstuhl sitzen. In der Öffentlichkeit zeige er sich praktisch nie, wurde mir berichtet. Aber auch der Stammesfürst Barsani, dessen Bild überall in den Amtsstuben und vielen Privathäusern hängt, hat an Ansehen verloren. Die Region hat wirtschaftliche Probleme. Viele Menschen klagen, dass ihre Gehälter seit mehreren Monaten nicht ausgezahlt wurden. Das Land befindet sich im Krieg, Mossul ist fest in der Hand des IS. Flüchtlinge müssen versorgt werden. Der Ölpreis ist gefallen, wodurch die Einnahmen des Landes sinken. Für die kurdischen Autonomiegebiete ist der wirtschaftliche Austausch mit der Türkei elementar. Das Verhältnis zur PKK ist nicht gut, in der Bevölkerung gibt es hier wenig Sympathien. Auch das Verhältnis zur PYD in Rojava ist eher distanziert. Grund ist unter anderem die Nähe der PYD zur PKK und ihr Einfluss im Sindschar-Gebirge, was auf irakischem Gebiet liegt. Die Peschmerga im Nordirak werden durch Deutschland mit modernen Waffen versorgt, um deren Kampf gegen den IS zu unterstützen. Der gesamte Irak ist nach der völkerrechtswidrigen Invasion der USA und des UK destabilisiert und wurde unter anderem dadurch zum Nährboden für den IS.
Syrien
In den überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten Nordsyriens ist die PYD die stärkste politische Kraft. Von der PYD wird eine Basisdemokratie angestrebt, die nicht nur Kurden, sondern auch andere Volksgruppen (Araber, Jesiden, Christen u.a.) einbeziehen will. Die Religion wird ausdrücklich als „Privatsache“ definiert und soll in der entstehenden neuen Gesellschaft keine öffentliche Rolle spielen. Als Vorsitzender dieser politischen Bewegung wird Abdullah Öcalan gesehen, dessen Bild fast überall gegenwärtig ist.
Volksverteidigungseinheiten der PYD sind die YPG (Männer) und die YPJ (Frauen). In der Region Sindschar hat sich die jesidische Selbstverteidigungseinheit YBS gebildet. Die Christen in Rojava verfügen über eigene Milizen. Insgesamt soll es in Rojava 47 Parteien geben, von denen die meisten keine Bedeutung haben.
Türkei
Die Situation in der Türkei ist ebenfalls hochexplosiv. Schon im vergangenen Jahr war die Meinung fast aller Menschen, mit denen ich gesprochen habe, dass der IS vom Präsidenten Erdogan unterstützt werde. Der IS sei in der Türkei schon bestens im Untergrund organisiert, so wurde mir berichtet. Nach dem Selbstmordattentat in Suruc, für das wohl niemand die Verantwortung übernommen hat, hat sich die Taktik der türkischen Regierung geändert.
Neben den eher halbherzig wirkenden Angriffen gegen den IS rückte die PKK wieder als Feindbild in den Mittelpunkt. Es gab nach dem aufgekündigten Waffenstillstand Tote auf beiden Seiten und Übergriffe auf kurdische Politiker, regierungskritische Medien, aber auch auf Oppositionelle und andere für den türkischen Staat unliebsame Personen. Die wichtigsten Personen dieser Einheit, Cemil Bayik, Murat Karayilan, Mustafa Karasu u.a. sollen sich in den Kandilbergen aufhalten. Die Kandilberge werden massiv von Militärmaschinen aus Diyarbakir angeflogen. Bomben und Drohnen kommen zum Einsatz. Vor den Wahlen hat sich die Menschenrechtslage offensichtlich weiter erheblich verschlechtert.
Meine Reise nach Rojava erfolgte nach der Kontaktaufnahme zur „Stiftung der Freien Frau in Rojava“, wobei mein Interesse vor allen dem Projekt „Frauengesundheit für Rojava“ galt. Aus meinem Bekanntenkreis begleitete mich als Übersetzer ein Jeside, der in Qamischli geboren und im Alter von vier Jahren nach Deutschland gekommen war. Mit kamen auch eine Psychologin mit Erfahrung in der Behandlung von traumatisierten Menschen sowie eine freie Journalistin, die uns für einige Tage begleitet hat. Von Erbil fuhren wir mit einem privat organisierten Taxi nach Dohuk. Der Fahrer, der sich als ehemaliger Peschmerga-Kämpfer vorstellte, zeigte stolz seine im Kampf erworbenen Verwundungen. Seine verbliebene Energie legte er in einen beängstigenden Fahrstil, der uns in 20km-Entfernung zur Frontlinie des IS brachte. Die Stimmung in der Bevölkerung schien bedrückt, von der Euphorie, die ich bei meinem ersten Besuch in diesem Gebiet vor zehn Jahren erlebt habe, war nichts mehr zu spüren. Taxifahrer beklagen sich über fehlende Kundschaft. Das Geld werde knapp. Die politische Situation sei undurchschaubar und verfahren. Schuld sei der Kampf um die Ölvorkommen und geopolitische Interessen anderer Länder. Die Rolle der USA wird kritisch gesehen. Ein Taxifahrer berichtete von einer befreiten Jesidin, die während ihrer Gefangenschaft US-Amerikaner in Verhandlungen mit IS-Kämpfern beobachtet hat. Das Misstrauen im Land ist groß. Viele wollen nur noch weg, am liebsten nach Europa.
In der Umgebung von Dohuk liegen mehrere Flüchtlingscamps. Durch Kontakt einer Kollegin aus Deutschland vermittelt traf ich mich mit einer Anglistik Studentin, die in ihrer Freizeit jesidische Mädchen in einem Camp betreut, die in der Gewalt des IS waren und schwersttraumatisiert entkommen konnten. Wir besuchten eine von ihnen. Zunächst begrüßte mich die Großmutter, die ebenfalls aus der Gewalt des IS fliehen konnte. „Wir wurden gefangen genommen. Ein IS-Kämpfer fragte mich: War Saddam Hussein ein guter Mensch? – Nein, antworte ich. War Maliki ein guter Mensch? – Nein, antwortete ich wieder. Ist Abu Bakr ein guter Mensch? Nein, war meine Antwort. Wer ist ein guter Mensch? – Du, antwortete ich.“ Entschuldigend fügte sie hinzu. „Ich wollte doch überleben.“ Irgendwann sei ihr die Flucht gelungen.
Später, als wir alleine im Zelt waren, erzählte die Enkelin ihre Geschichte: „Wir wurden vor etwa einem Jahr von den IS-Kämpfern zusammengetrieben, die Mädchen wurden von den Männern getrennt und in einen Raum gesperrt. Ich bin acht Mal hintereinander von verschiedenen Männern vergewaltigt worden. Später hat man mich wie auf einem Viehmarkt versteigert. Ich kam zu einer Familie wo ich den ganzen Tag arbeiten musste. Ich wurde geschlagen und vergewaltigt. In der Familie waren auch Kinder, die ihren Vater fragten, warum er mich schlage. Er habe geantwortet, man müsse Ungläubige so behandeln. Mit mir war ein 14-jähriges geraubtes jesidisches Mädchen in dieser Familie. Einmal gab es ein großes Fest mit vielen Gästen. Wir mussten den ganzen Tag schwer arbeiten. Nach dem Fest mussten wir den Abfall beseitigen. Diese Situation haben wir zur Flucht genutzt. Wir haben uns im Dunklen in einem leerstehenden Haus versteckt. Sie haben etwa eine Stunde später nach uns gesucht, konnten uns aber im Dunklen nicht finden. Am nächsten Tag kamen mehrere IS-Kämpfer in das Haus. Wir haben uns in der oberen Etage versteckt, wir hatten schreckliche Angst. Nach einigen Stunden sind sie weitergezogen. Wir sind weggelaufen, als es dunkel wurde. Ich konnte meine Familie hier im Camp finden. Das andere Mädchen hat niemanden von ihrer Familie mehr gefunden. Sie wurde im Camp von einer anderen Familie aufgenommen.“
Am folgenden Tag passierten wir die Grenze nach Syrien mit einer kleinen Fähre über den Tigris. Wir wurden von einem Fahrer der PYD abgeholt und zur Stiftung gefahren. Der Plan für die nächsten Tage wurde besprochen. Einen Tag später wurden wir nach Sere Kaniye gefahren. In der Nähe gibt es Ausgrabungen aus prähistorischer Zeit. Die Kleinstadt ist durch die Grenze von der türkischen Stadt Ceylanpinar getrennt. Einen Grenzübergang gibt es nicht. In der ambulanten Krankenstation wurde uns berichtet, dass nicht selten Kinder mit Schusswunden in den Beinen in das nächste Krankenhaus gebracht werden, von der türkischen Seite werde scharf geschossen, wenn sich jemand der Grenze nähere. In der ambulanten Krankenstation treffen sich regelmäßig Frauen, die im psychosozialen Bereich arbeiten. Die Frauen fühlen sich mit der Betreuung der vielen traumatisierten Menschen überfordert. Sie sind ungeheuer engagiert und stellen viele Fragen. Sie wünschen sich eine wie auch immer geartete Ausbildung, um besser mit den enormen Anforderungen umgehen zu können. Nach intensiven und anstrengenden Einzelgesprächen mit Frauen, die Männer oder Söhne durch den Krieg verloren haben besprachen wir mit den Betreuerinnen, wie eine Unterstützung von unserer Seite entwickelt werden könnte. Wir blieben einige Tage dort, bevor wir das Flüchtlingscamp Newroz in der Nähe von Derik aufsuchten.
In diesem Camp wohnen fast ausschließlich Jesiden, die aus dem Sindschar-Gebiet geflüchtet sind. Fast jede Familie hat Angehörige verloren. Mitglieder der PYD betreuen die Menschen im Camp. Junge Frauen von Heyva Sor haben die Aufgabe der Kinderbetreuung übernommen. Es gibt Schulen und eine kleine Nähstube ist im Entstehen. Wir trafen Menschen, die im Camp wohnen und sich aktiv an der Gestaltung beteiligen. Andere sind in Trauer und Schmerz erstarrt und kaum dazu zu bewegen, ihr Zelt zu verlassen. Wir blieben drei Tage im Camp, wo wir mit einigen Mitarbeitern einen Container für die Nacht teilten. Die Flüchtlinge sind in einer schwierigen Situation. Kaum einer möchte zurück, sie haben einfach Angst nach dem, was sie erlebt haben. Einige wollen nach Europa, andere wollen bleiben, in der Hoffnung, Nachricht von ihren vermissten Angehörigen zu bekommen. Vom Camp Newroz fuhren wir in das Sindschar-Gebirge.
In den Bergen sind kleine Zeltsiedlungen entstanden. Wir trafen junge Frauen von der Selbstverteidigungseinheit Shengal. Wir besuchten Menschen in den Zelten, die uns von unvorstellbaren Grausamkeiten erzählten, die sie erfahren haben. Aber diese Menschen wollen trotz allem in den Bergen bleiben. Manchmal sehen sie mit einem Fernglas in die Täler, wo ihre zerstörten Häuser liegen. Sie wollen zurück, wenn der Krieg vorbei ist. Dankbar berichteten sie von der Hilfe durch die YPG und YPJ- Einheiten. Ohne diese hätten sie wohl nicht überlebt. Über die Peschmerga hörten wir wie auch im Camp Newroz heftige Klagen: „Sie haben uns verraten, sie haben sich sogar in Einzelfällen an den Übergriffen beteiligt. Spenden, die uns von Hilfsorganisationen geschickt werden, werden von ihnen abgefangen. Die Peschmerga bekommen moderne Waffen – für uns bleiben nur die alten Kalaschnikows.“
Wir verbrachten die Nacht in einem großen Zelt zusammen mit dem Kämpferinnen. Die Luft war klar. Über den Bergen war mit unbeschreiblicher Schönheit der Sternenhimmel mit der Milchstraße ausgebreitet. Langsam löste sich ein größeres gelbliches Licht aus dem Sternenhimmel und zog hinter die Bergkette, wo es verschwand. Von dort seien in den letzten Tagen Rauchwolken aufgestiegen: Es gebe wieder Kämpfe.
Am nächsten Tag besuchten wir Schulklassen, die in Containern eingerichtet sind. Manchmal reicht der Platz nicht aus, so dass sich zwei Schüler einen Stuhl teilen müssen, andere warten draußen. Die Kinder lernen die lateinischen Buchstaben und nicht wie bisher die arabische Schrift. Wir kamen zögernd mit den Kindern in ein Gespräch. Ein kleines Mädchen sang uns ein kurdisches Volkslied vor.
Am 8. Oktober verließ ich mit meinem jesidischen Begleiter Rojava. Wir blieben zwei Tage in Lalisch, dem Heiligtum der Jesiden. Wir sprachen mit Menschen und hörten immer wieder die grausamen Erlebnisse, die sich glichen und doch jedes mal anders waren wie die verschiedenen Gesichter der Menschen.
Am Abend des 10. Oktober fuhren wir bei Silopi über die Grenze zur Türkei. Die Situation war unübersichtlich und wirkte bedrohlich. Die Abgase der zahlreichen Tanklaster, die an der Grenze warten, nahm die Luft zum Atmen. Menschen rannten und schrien durcheinander, sie redeten auf uns ein und zerrten an uns. Nach einigen Minuten sahen wir keinen anderen Ausweg, als uns unbekannten Männern anzuvertrauen, die uns für Geld über die Grenze schleusten. Silopi war menschenleer. Auf der einen Straßenseite stauten sich über mehrere Kilometer die Lastwagen, auf der anderen Seite standen gepanzerte Militärfahrzeuge. Am Busbahnhof fanden wir ein Auto, dessen Fahrer uns nach Diyarbakir fahren würde. Busse fuhren nicht. Kurz nachdem wir die Stadt verlassen hatten, erfuhren wir telefonisch, dass in Silopi Gefechte begonnen hätten, dass in Ankara ein Bombenattentat stattgefunden und viele Tote gefordert habe und dass die Innenstadt von Diyarbakir gesperrt sei.
Wir blieben noch einige Tage in Diyarbakir, führten Gespräche, besuchten ein Flüchtlingscamp in der Nähe. Wir erfuhren, dass ein kleines Mädchen, was während der Ausgangssperre in der Innenstadt auf die Straße gelaufen war, von Scharfschützen erschossen wurde. Wir spürten die verzweifelte Wut der Menschen und atmeten Tränengas.
Am Tag vor unserer Abreise traf ich mich mit einem befreundeten kurdischen Rechtsanwalt, der wegen gewaltfreien Widerstands Gefängnis, Folter und Exil erduldet hat. Den bewaffneten Kampf der HPG lehnt er entschieden ab. Als Atheist und Pazifist steht er der Politik Erdogans auch ablehnend gegenüber:. „Ja. Es ist schlecht, was er macht, aber was glaubst Du ,was passiert, wenn er die Wahlen verliert? Ich sage Dir, es wird viel schlimmer, wenn es in der Türkei keine stabile Regierung gibt.“
Meine kurdische Freundin erwiderte Ich bin für die PKK wie meine alten Eltern und unsere Nachbarn. Die PKK ist die einzige Organisation, die sich für die Kurden einsetzt. „Vielleicht“, fügte sie nach einer Weile hinzu, „würden wir Kurden ohne die PKK das gleiche Schicksal erleiden wie vor 100 Jahren die Armenier.“
Die IPPNW-Ärztin Marlene Pfaffenzeller bereiste vom vom 24. September bis zum 17. Oktober 2015 den Nordirak, Nordostsyrien und die Südosttürkei
Der Bericht ist, wie auch das Buch ‘Todesangst und Überleben’ ein wichtiger Beitrag zu der Frage, wie jene, die zum Spielball geopolitischer Interessen werden, leben und ob sie diese Spiele überleben. Der Mut, das Wissen und die Arbeit von Menschen wie Marlene Pfaffenzeller motivieren!
Marlene Pfaffenzeller hat wieder großen Mut bewiesen, sich in solch gefährliche Regionen zu begeben, um uns authentische Eindrücke zu vermitteln. Interessant auch die von ihr wiedergegebene differenzierte Bewertungen zum Wahlsieg Erdogans.
Dank für diesen Einsatz!
Matthias Jochheim
Danke Marlene!!
Hoffentlich sehen wir uns am 12. Dezember im AK Süd-Nord in Kassel.
Herzlich grüßt
Manfred.