
Graffiti in Diyarbakir
Unser Gespräch mit der Anwaltskammer Diyarbakir am 23.03.2021
Newroz 2021 in Diyarbakir: Serra berichtet, dass trotz Corona viele Menschen auf den zentralen Newrozplatz gekommen sind und die Stimmung gelassen und fröhlich war. Die Polizei habe sich weitgehend zurückgehalten. Die vielen Menschen hätten ein deutliches, friedliches Zeichen gesetzt gegen den Verbotsantrag für die HDP, gegen den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention und die immer weiter zunehmende Repression gegen die kurdische Zivilgesellschaft.
Emrullah Cin: Wir freuen uns sehr, dass sich Herr Cin unserem virtuellen Besuch angeschlossen hat. Er war der Ko-Bürgermeister von Viransehir, den wir oft besucht und von dessen Arbeit für seine Stadt wir sehr beeindruckt waren. Nach Gefängnis, Wiederwahl, Absetzung und erneuter Anklage lebt er jetzt in Deutschland.
Treffen mit Cihan Aydin: Regierung, Polizei und Justiz vernichten die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei
„Wo soll ich anfangen … ?“ fragt uns unser heutiger Gesprächspartner Rechtsanwalt Cihan Aydin aus dem aktuellen Co-Vorstand der Anwaltskammer. Es gäbe so viele Probleme und Rechtsverletzungen. Neue und weitere aufgebürdet zu bekommen, sei tägliche Routine des Staates. Er wisse gar nicht, wo er anfangen solle.
Als die AKP die bisherige Standesordnung aufhob, dass es pro Stadt oder Bezirk nur eine Anwaltskammer geben dürfe, gab es tagelang landesweit Proteste. Jetzt wurde vom Präsidenten als neues Gesetz festgelegt, dass parallele Kammern entstehen dürfen. Demonstrationen und Mahnwachen dagegen wurden mit Covid-Verweis komplett verboten.
Herr Aydin berichtet, dass im November 2020 35 Kolleg*innen aus der Region aus ihren Häusern geholt und verhaftet wurden. Der Vorwurf war, dass ihre Namen auf einer Liste im Büro des DTP (Demokratischer Gesellschaftskongress) gefunden wurden. Dabei sei bekannt, dass sich diese Liste auf die Wahlberatung für Bürger*innen bezieht, zu der sie als Jurist*innen sogar von offizieller Stelle wiederholt beauftragt waren. Diese Arbeit machten sie seit über zwanzig Jahren.
Vor weniger als zwei Wochen gab es Verhaftungen im Umfeld von „Media Der“, einem Selbsthilfe-Verein der Angehörigen von politischen Gefangenen. Auch dabei waren wieder 18 Anwält*innen betroffen. Diese Anwält*innen können nun den Verein nicht mehr vertreten. Oft gebe es eine lange Untersuchungshaft, ohne dass eine Anklageschrift vorgelegt werde oder Anwälte Akteneinsicht bekämen. Damit gebe es oft erst spät die Möglichkeit, sich zu verteidigen.
Herr Aydin selbst und andere Kolleg*innen der Kammer seien inzwischen mit 12 verschiedenen Anklagen belegt, die ganz pauschal unter Terrorismusvorwurf und Staatsverrat fallen. So haben sie als Vorstand der Kammer am 24.04.2019 zum Jahrestag des Beginns des Völkermordes an den Armeniern 1915 eine Presseerklärung herausgegeben und dafür gleich zwei Verfahren kassiert. Angeklagt sind sie auch wegen Presseerklärungen zu den Zwangsverwaltungen, dem Hungerstreik oder zu einem Hasskommentar der staatlichen Religionsbehörde gegen die LBSQ-Gemeinschaft. In keinem Fall ist von ihnen Gewalt oder auch nur eine Blockade ausgegangen.
Politische Verfahren und Gefangene
Dr. Selcuk Mizrakli, der letzte abgesetzte Oberbürgermeister von Diyarbakir, ist uns als ärztlicher Kollege und ÄK-Vorsitzender seit Jahren bekannt. Er sitzt immer noch im Gefängnis in Kayseri. In zweiter Instanz hat ein Berufungsgericht seine acht Jahre Haftstrafe bestätigt. Nach der dritten Instanz (Kassationsgericht) gibt es kein Widerspruchsrecht mehr. Herr Aydin ist einer seiner Anwälte. So wie er auch Ex-Bürgermeisterin Kisanak mit vertreten hat oder die inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahatin Demirtas und Figen Yüksekdag. In dem sogenannten „6.- 8.10. Kobani-Verfahren“ gegen viele HDP- Repräsentant*innen wird am 26.04.2021 in Ankara ein weiteres Verfahren eröffnet.
Zu dem ungeklärten Mord an ihrem damaligen Kammer-Vorsitzenden Tahir Elci habe ein Prozess erst nach 4 ½ Jahren überhaupt begonnen. Bei der ersten Anhörung von drei Polizisten und einem PKK- Mitglied sei das Gerichtsteam so schlecht vorbereitet gewesen, dass die Kammer den Richter ablehnte, was ihr Recht sei. Beim zweiten Verfahren am 3.3.2021 seien sie zwar etwas vorsichtiger gewesen. Aber die Verdächtigen befänden sich auf freiem Fuß und nicht in U-Haft, wichtige Aufnahmen von Überwachkameras seien vernichtet, wichtige Beweismittel erst gar nicht erhoben worden. Niemals habe das Gericht Kontakt zur Kammer aufgenommen. Die Kolleg*innen arbeiten weiter an der Aufklärung dieses für die Region zentralen Mordes. Viel Hoffnung habe er aber nicht.
Zu unserer Frage nach dem Zustand von Abdullah Öcalan, dem bekanntesten politischen Gefangenen der Türkei, gebe es keinerlei belastbare Nachrichten. Im April 2019, als die damaligen Hungerstreiks die 200-Tage-Dauer überschritten, gab es den letzten Besuch von Anwälten auf Imrali (der Gefängnisinsel), kurz darauf einen Besuch durch seinen Bruder. Obwohl die Anwälte jede Woche aufs Neue Besuchsanträge stellen, gibt es seit mehr als einem Jahr keinerlei Kontakt.
Paralleljustiz unterhöhlt Rechtssystem und ersetzt es
Nach dem Putschversuch vom 15.07.2016 seien von den 14.700 Richtern und Staatsanwälten auf einen Schlag 5000 Kolleg*innen entlassen worden. Stattdessen habe der „Rat der Richter und Staatsanwälte“ in einer mündlichen und schriftlichen Prüfung über 15.000 Neueinstellungen entschieden, meist junge, kaum ausgebildete Universitätsabsolventen. Dieser Rat unterstehe direkt dem Justizminister, also der Regierung. Einer Gesinnungsjustiz war damit Tür und Tor geöffnet. Seitdem werden die Gesetze willkürlich ausgelegt nach dem Motto: Wie würde Erdogan entscheiden? Sollten doch einmal Juristen nicht AKP-konform entscheiden, würden sie entlassen oder in abgelegene Regionen versetzt, nach innen als Verräter des Vaterlandes oder nach außen als Terroristen abgestempelt. Das führe zu Selbstkontrolle (Selbstzensur). Die Türkei habe kein rechtsstaatliches Justizsystem mehr.
Zentralbegriff „Heiliger Staat“
Zur Zerstörung des Rechtssystems werde ein überhöhter, unangreifbarer Staatsbegriff aufgebaut, der Moral und Justiz aushebelt. Dies erkläre mit, warum die Erdogan-Regierung trotz wirtschaftlichem Absturz der Türkei und Verarmung weiter Bevölkerungsteile noch über solche Macht verfügt. Statt mit Wohlstand werde jetzt umso mehr mit nationalistischer und religiöser Aufheizung gearbeitet, der Staat selbst für heilig erklärt. Opposition werde in allen Bereichen unterdrückt. Regierung, Polizei und Justiz seien die drei Instrumente der Repression in der heutigen Türkei.
Ausreiseverbot und Hoffnungslosigkeit
Der Staatsbegriff Erdogans spalte auch die beiden großen demokratischen Oppositionsgruppen CHP und HDP. Herr Aydin sieht eine zunehmende Isolierung der Gesellschaft. Auch er unterliegt einem Ausreiseverbot. „Wir sollen im Ausland nicht berichten.“ Ausreiseverbote und Denkverbote gehen Hand in Hand. Die offizielle Presse ist gleichgeschaltet, es gibt nur noch gewisse Freiräume bei den sozialen Medien (Twitter), aber auch hier gibt es Behinderungen. Früher seien Botschaftsvertreter verschiedener Länder als Prozessbeobachter gekommen. Zuletzt habe ihm der französische Botschafter erklärt, die Sicherheitslage verbiete weitere Besuche in der Region. EU-Rat, EU-Parlament oder Regierungen haben keinen Einfluss mehr. Internationale Delegationen und Besuche von NGOs „geben uns zwar ein gutes Gefühl als Zivilgesellschaft, haben aber keine politische Auswirkung“. Dennoch werde er weiter arbeiten. Auch ein kurdisch-multiethnischer Widerstand werde weitergehen. Unseren freundschaftlichen Austausch wertschätze er sehr. Dem schließen wir uns an.
Herr Aydin würde uns gerne im nächsten Jahr in Diyarbakir wiedersehen. „Aber in der Türkei gibt es keine Garantie, was im nächsten Jahr geschieht“.
Dr. Elke Schrage ist Ärztin und IPPNW-Mitglied
Katastrophal, die Verhältnisse in der Türkei. Um so bewundernswerter ist der allgemeine friedliche Kampf gegen den Versuch, eine Diktatur aufzubauen.
Aber der Blick auf die “westliche Wertegemeinschaft” zeigt auch Erschreckendes. Überall müssen wir friedlich kämpfen, für Frieden, eine gesunde Umwelt und für gute soziale Verhältnisse. Zum Beispiel sollte eine Obgergrenze für Reichtum eingeführt werden, ich schlage 30 Millionen € vor… Milliardenvermögen verleiten zum Kaufen von Politik, wie wir leider erleben. …