Van: Die Stadt hinter der Mauer – EU-Abschottungspolitik in der Praxis

Grenzmauer Türkei-Iran. Foto: © Agentur Mezopotamya

Türkei: Die Mauer an der Grenze zum Iran. Foto: © Agentur Mezopotamya

Teil 1

Van ist die östlichste Großstadt der Türkei und liegt ca. 100 km von der iranischen Grenze entfernt. Aufgrund der geographischen Lage ist die Stadt Durchgangsstation für Geflüchtete u.a. aus dem Iran, Afghanistan, Pakistan und Bangladesch. Hier zeigen sich die Auswirkungen des mittlerweile sieben Jahre alten „EU-Türkei-Deals“, der 2021 verlängert wurde. „Mit diesen Mitteln“, so der Europäische Rat, „soll die Unterstützung in den Schwerpunktbereichen Grundbedürfnisse und Bildung, Migrationssteuerung und Grenzkontrolle sowie humanitäre Hilfe fortgesetzt werden.“ (https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-migration-policy/eastern-mediterranean-route/). Im letzten Jahr berichteten wir ausführlich darüber, was das konkret für Geflüchtete in der grenznahen Stadt bedeutet. Leider sind mit unserem diesjährigen Besuch in Van keine Verbesserungen der Menschenrechtssituation für Geflüchtete zu verzeichnen.Infolge des EU-Türkei-Abkommens wurde die Registrierung und Anerkennung von Geflüchteten im Jahr 2018 vom UNHCR auf die Türkische Republik übertragen. Seitdem hat sich die Quote der internationalel Anerkennungen deutlich reduziert. Ohne Registrierung und Anerkennung sind Geflüchtete von grundlegenden Rechten wie Gesundheit, Bildung, oder Arbeit ausgeschlossen. Aber auch anerkannte Flüchtlinge erhalten nur eine Arbeitserlaubnis, wenn ihr Arbeitgeber diese beantragt. Das bedeutet aber, dass dieser dann Mindestlohn zahlen und Sozialabgaben leisten müsste. Dadurch gibt es strukturelle Anreize Geflüchtete – egal mit welchem rechtlichen Status – nicht legal zu beschäftigen.

Die Lage an der Grenze selbst hat sich zugespitzt. Nachdem bereits an der Grenze zu Syrien eine Mauer fertiggestellt wurde, ist nun auch die Grenzmauer zum Iran kurz vor der Fertigstellung (https://www.spiegel.de/ausland/tuerkei-baut-grenzmauer-zu-iran-armutszeugnis-fuer-die-eu-a-3d17e3f0-9ee5-46dd-8066-f71f9248351d). Aufgrund älterer Konflikte und dem „Kampf gegen den Terror“ sind Teile des Grenzgebietes zudem vermint. Eine Finanzierung des Mauerbaus durch EU-Mittel ist aufgrund der Intransparenz des türkischen Staates für unsere Gesprächspartner nicht direkt nachzuweisen gewesen, es gäbe lediglich mündliche Aussagen von EU-Diplomaten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der wirtschaftlich angeschlagene türkische Staat für dieses Großprojekt einer über 500km langen Grenzmauer mit Gräben, Wachtürmen und Überwachungstechnologie technologische, finanzielle und politische Hilfe bekommen hat. Weitere journalistische Recherchen weisen auf die Beteiligung von britischer Überwachungstechnik und Ausbildungstätigkeit hin. Es gibt allerdings auch innenpolitische Anreize die Mauer zu bauen, da die Ablehnung von Geflüchteten in der Türkei zunimmt und die Mauer Handlungsfähigkeit der Regierung suggeriert.

Nach Einschätzung der Beobachter führt die Fertigstellung der Grenzmauer in den Bergen allerdings nicht zu einem Ende der Migration, sondern vor allem zu Extraprofiten für Schleuser und ihre Komplizen unter den Grenzsoldaten und -polizeien. Neben dem Preis steigt auch die Gefährlichkeit des Grenzübertritts für die migrierenden Menschen. Das Gebirge im Grenzgebiet ist im Winter sehr kalt, schneebedeckt und zudem von wilden Tieren bewohnt. Jedes Jahr zur Schneeschmelze werden in den Flüssen der Grenzregion Leichen entdeckt. Einige sind erfroren, manche sind aber auch Opfer von Gewaltverbrechen in dieser künstlich geschaffenen Gesetzlosen Zone geworden.

Mehrere Gesprächspartner berichteten von illegalen Pushbacks in den Iran. Bei diesen wird zum Teil massive Gewalt angewendet. Vor Ort konnten wir mit einem afghanischen Mann reden, dem bei seinem ersten Pushback in den Iran der Wangenknochen gebrochen wurde. Mit Glück konnte er die Stadt Van erreichen. Trotz organisatorischer und finanzieller Hilfe durch die Türkische Menschenrechtsstiftung durfte er aus rechtlichen Gründen nicht operiert werden. Als nicht registrierter Flüchtling lebt er jetzt in einem Hotelzimmer, dass durch seine Familie finanziert werden muss. Arbeiten darf er nicht.

Wo sie können, begleiten die Anwaltskammer, Frauen-, und Menschrechtsverein Verfahren gegen Grenzbeamte, insbesondere in Fällen von sexualisierter Gewalt. Es kommt gelegentlich zu Verurteilungen. Die meisten Verbrechen bleiben aber ungestraft. Das Dunkelfeld ist sehr groß.

Doch die genannten zivilgesellschaftlichen Institutionen führen einen Kampf gegen Windmühlen, da weder die Fluchtursachen beseitigt, noch sichere Wege für die Migration geschaffen werden. Es mangelt offensichtlich der politische Wille, um diese systematischen Menschenrechtsverletzungen zu beseitigen. Im Gegenteil, werden diese sogar begünstigt und befördert. Dafür tragen die EU und die westliche Staatengemeinschaft durch Kriege, Wirtschaftssanktionen und Abschottungspolitik eine große Mitverantwortung.

Uwe Weitzmann hat mit der IPPNW-Reisegruppe im März 2023 die Südost-Türkei besucht.