
Die zerstörte Altstadt von Diyarbakir Anfang 2016. Foto: Anonym
Für Ausgangssperren, die länger als 15 Tage sind, gibt es in der Türkei keine rechtliche Grundlage. Unsere heutigen Gesprächspartner in Diyarbakir (demokratische Plattform, Anwaltskammer, Oberbürgermeisteramt, Ärztekammer und städtisches Kulturdezernat) sind schockiert von den 105 Tagen, in denen sechs Stadtviertel der historischen Altstadt Sur ununterbrochen unter Ausgangssperre standen.
Bei den ersten Ausgangssperren im Südosten gab es keine Fristen zum Verlassen der Viertel. In Sur hatten die Menschen trotz vorzeitiger Ankündigung gehofft, dass es bald vorüber sei und blieben in ihren Häusern. Oder mussten bleiben. Denn ein Muster aller Sperrzonen ist, dass vor allem Viertel mit hoher Armut und hohem Anteil von vertriebener Landbevölkerung betroffen sind. Außerhalb der Sperrzonen steigen die Mieten, drängen sich Familien auf engstem Raum, werden Schulen und Gesundheitszentren geschlossen, um dort Einsatzkräfte und Militär unterzubringen. Nach zwei Monaten Ausgangssperre wurden die Viertel in Sur komplett abgeriegelt. Von Anfang an durfte nichts und niemand hinein. Jetzt durfte aber auch niemand mehr hinaus. Die letzten Lücken in der Stadtmauer waren längst mit Beton verschlossen. Selbst auf Verletzte oder Menschen mit weißer Fahne wurde geschossen. Der Stadtverwaltung war jede Hilfeleistung untersagt, Ministerien und Gouverneur waren für sie nicht zu sprechen. Humanitäre Korridore oder Bergungsaktionen wurden abgelehnt, die Versorgung mit Wasser, Strom und Lebensmitteln war komplett unterbrochen. Wassertanks auf den Dächern wurden gezielt beschossen.
Es muss als humanitäres Trauma gewertet werden, dass die kurdische Gesellschaft die Bilder der Zurschaustellung der ungeborgenen Leichen in den Straßen und die Botschaften der Eingeschlossenen medial verfolgen muss. Manche unserer Gesprächspartner berichten, dass sie sich schuldig fühlen für ihre erzwungene Tatenlosigkeit – auch sie wirken auf uns traumatisiert. Ein Arzt berichtet, dass er zeitweise bei Untersuchungen die Herztöne seiner PatientInnen von Geräuschen der Detonationen nicht mehr unterscheiden konnte.
Die Räumkolonnen der Regierung, die sofort nach Aufhebung der Ausgangssperre Schutt und Trümmer beseitigten, anstatt verletzte und traumatisierte Menschen zu versorgen, dienen auch der Beseitigung von Beweisen. Mit dem Schutt seien Leichenteile abtransportiert worden, wird weiterer persönlicher Besitz vernichtet.
Davutoglus und Erdogans Ankündigung, die zerstörten Städte innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, klingt zynisch angesichts dieser Zerstörung kurdischer Lebensräume.
Dr. Elke Schrage ist Ärztin und IPPNW-Mitglied und derzeit auf Delegationsreise in der Türkei/Kurdistan unterwegs.