Umweltverbände und viele andere zivilrechtliche Organisationen wie Greenpeace, IPPNW und das European Environmental Bureau (EEB) demonstrierten gegen die Planungen beim ersten Gipfeltreffen der Internationalen Atombehörde (IAEA) am 21. März 2024 in Brüssel. Offensichtlich sollte das Ziel des Treffens v.a. der Schulterschluss von Politik und Atomindustrie sein, denn europäische Regierungschefs, Wirtschaftsminister und auch EU-Präsidentin Ursula von der Leyen, waren u.a. eingeladen worden.
Im Rahmen der 18. UN-Klimakonferenz 2023, der COP28 in Dubai, wurde beschlossen, eine Konferenz der Internationalen Atom-Agentur (IAEA) in Brüssel durchzuführen, um über die Potentiale der Atomenergie hinsichtlich eines Beitrages zur Senkung des CO2-Ausstoßes mit dem Ziel der Verhinderung des Überschreitens der durchschnittlichen 1,5-Grad-Limits zu diskutieren. Die Festlegung der durchschnittlichen Temperaturgrenze wurde durch das Pariser Klimaabkommens von 2015 festgelegt. Die IAEA und Belgien hatten daher unter dem Co-Vorsitz von IAEA-Präsident Rafael Mariano Grossi und dem belgischen Präsidenten Alexander de Croo zum Atomgipfel nach Brüssel eingeladen.
Vor etwa einem Jahr hatte sich eine Allianz aus anfangs elf europäischen Staaten gebildet, die auf dem Feld der zivilen Nutzung und Forschung der Kernenergie zusammenarbeiten wollen. Inzwischen ist die Allianz auf 14 Mitglieder in der EU angewachsen und bildet damit eine Mehrheit unter den EU-Staaten.
Angeführt wird die Allianz von Frankreich, das rund 65 Prozent seines Stroms aus Atomkraft bezieht. Insgesamt 12 der 27 EU-Mitgliedsstaaten betreiben AKW. Mit rund 100 Atomreaktoren ist in der Europäischen Union circa ein Viertel aller Reaktoren weltweit in Betrieb (inklusive der Atomreaktoren in Großbritannien und der Schweiz).
Ziel ist es, die in Europa installierte Leistung von Kernkraftwerken bis 2050 auf 150 Gigawatt zu steigern – ein Plus von rund 50% verglichen mit heute. Derzeit sind Kernkraftwerke tatsächlich nur in zwei Mitgliedstaaten in Bau (Mochovce in der Slowakei und Flamanville in Frankreich). Die EU ist in der Frage einer regenerativen Energie bei der Atomkraft gespalten. Der Net Zero Industry Act, das EU-Förderprogramm für die regenerative Energiegewinnung und mit dem Ziel der Klimaneutralität Europas bis 2050, wurde für die Atomenergie geöffnet. Kernenergie gilt im Rahmen der sogenannten EU-Taxonomie unter bestimmten Voraussetzungen als nachhaltig, was im Endeffekt den Zugang zu Investitionen für die Atomindustrie erleichtert. Für die Atombranche ist das entscheidend, da sie ohne staatliche Investitionen kaum überleben kann. Frankreichs AKW-Betreiber Electricité de France ist hoch verschuldet.
Im Vorfeld der Konferenz in Brüssel arbeiteten die Teilnehmer*innen der Umwelt- und Antiatomverbände eine offizielle Erklärung aus, die am Konferenztag in den Medien veröffentlicht wurde. Die Erklärung wurde von über 620 Organisationen unterzeichnet, stellvertretend für Millionen von Menschen weltweit. In der offiziellen Erklärung wurde eine sichere, erschwingliche und klimafreundliche Energie für alle gefordert. Die Planungen der Atomindustrie eines Ausbaus vieler Atomkraftwerke als ergänzende Lösung der Klimakrise können in der Realität aus vielen Gründen nicht funktionieren.
So ist die Atomenergie viel zu langsam bei der Bewältigung des Klimanotstands und wäre nicht in der Lage sein, bedeutend zur Reduktion des CO2-Ausstoßes in diesem Jahrzehnt beizutragen. Während Atomprojekte aufgrund explodierender Kosten mit enormen Budgetüberschreitungen und -absagen konfrontiert sind, sind erneuerbare Energien preiswerter als je zuvor. Im World Nuclear Industry Status Report (WNISR) beschreibt Mycle Schneider, dass „neue Atomkraftwerke fast viermal teurer sind als Windkraft“.
Atomenergie ist gefährlich, beginnend von der Urangewinnung aus Minen über die Herstellung von Kernbrennstäben bis zur Behandlung radioaktiven Abfalls. Sie stellt ein Risiko für die Gesundheit der Menschen, für die Sicherheit und für die Umwelt dar. Außerdem wird Atomenergie für militärische Zwecke genutzt und erhöht das Risiko einer Verbreitung von Nuklearwaffen weltweit, indem angereichertes Uran für Atombomben genutzt wird. Klimaveränderungen selbst und Erdbeben stellen ein erhebliches Risiko für Atomkatastrophen dar. Kriege führen zu einer zusätzlichen Bedrohung von Atomanlagen, wie wir gerade aktuell in der Ukraine erleben.
Unter dem Motto „Märchen Atomenergie“ stellten sich mehrere Mitglieder der Organisationen, darunter auch Mitglieder der IPPNW Aachen, mit Dr. Angelika Claußen, der Präsidentin der IPPNW Europa, als Märchenfiguren vor ein aufgeblasenes Märchenschloss, unweit vom Konferenzgebäude der IAEA und dem Atomium in Brüssel. Vor Fernsehkameras verschiedener Sender und den Mikrofonen von Journalist*innen wurden kurze Reden zu den oben angesprochenen Fakten zur Atomenergie gehalten. Parallel zu der Kundgebung fanden Vorträge von Wissenschaftlern, Vertretern der Umweltverbände und von “Bondbeterleefmilieu”, einem großen belgischen Umweltnetzwerkverband statt, der die Vortragsveranstaltung organisierte. Hier wurden Themen wie die Wirtschaftlichkeit und Effizienz von Atomkraftwerken, die aktuellen weltweiten Standorte von Atomkraftwerken und die wirtschaftlich-militärischen Verflechtungen der Atomindustrie mit Rosatom/Framatome vorgestellt.
Michael Oertzen, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, ist Mitglied der IPPNW- Gruppe Aachen und des Arbeitskreises Atomenergie.