Türkei: Gewählte Bürgermeister durch Regierungsbeamte ersetzt

Foto: IPPNW

In der Türkei wurden kurdische Bürgermeister der DEM-Partei, die bei der Kommunalwahl im März mit großer Mehrheit gewählt wurden, wie in früheren Jahren durch staatlich ernannte Zwangsverwalter ersetzt und unter Anklage gestellt. Zuerst gleich nach den Wahlen in Van, das konnte durch massive Proteste im ganzen Land rückgängig gemacht werden, dann in Hakkari. Hier wurden die Proteste massiv unterdrückt und der Bürgermeister inzwischen zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Jetzt folgte die Absetzung der Bürgermeister von Mardin, Batman und einem Viertel in Urfa. Ein paar Tage zuvor wurde ein kurdischer Bürgermeister der sozialdemokratischen CHP in einem Stadtteil von Istanbul ebenfalls entlassen. Überall verhängte die Polizei zeitgleich ein zehntägiges Demonstrations- und Veranstaltungsverbot und geht mit großer Härte gegen Protestversammlungen vor. Einer unserer Gesprächspartner in Van berichtet, dass ihm im Polizeigewahrsam nach einer Protestversammlung die Nase gebrochen wurde. Weiterlesen

Menschenrechtler*innen aus der Türkei zu Besuch in Berlin

Wandbild in Diyarbakir. Foto: Susanne Dyhr

Wandbild in Diyarbakir. Foto: Susanne Dyhr

Dank Dorothea Zimmermann können die Gäste in ihrem Hausprojekt untergebracht werden. In den nächsten Tagen sind sie hier gut aufgehoben und erfahren hier auch einiges über alternative Wohnprojekte, Hausbesetzungen und die prekäre Wohnsituation in Berlin. Die Orga-Gruppe Berlin hat viel geleistet und 15 Programmpunkte organisiert, darunter drei öffentliche Veranstaltungen, an denen die Gäste auf den Podien teilnehmen und aktuelle Entwicklungen berichten können. Weiterlesen

Menschenrechte in der Türkei: Gäste aus Diyarbakir (Amed) und Van berichten

Diyarbakir, 2018 (Foto: IPPNW)

Diyarbakir, 2018 (Foto: IPPNW)

Drei Menschen aus der Türkei, die die IPPNW und die Neue Richtervereinigung eingeladen hatten, ist ein Visum verweigert worden. Wir hatten das große Glück, dass in dieser Situationen zwei Aktivist*innen aus der Türkei spontan und kurzfristig eingesprungen sind und wir dennoch in Frankfurt am 14. und 15. September 2024 fünf Gäste in Empfang nehmen konnten.

Unser früherer Dolmetscher Mehmet Bayval hat uns dabei tatkräftig unterstützt. Es zeigt sich bei diesem vierten Gegenbesuch, dass die Kommunikation auf beiden Seiten leichter wird. Eine Lehrerin aus Diyarbakir (Amed) spricht fließend Englisch und alle sind digital bestens vernetzt. In Deutschland treffen wir vor Ort auf immer mehr Netzwerke und interessierte Menschen, die den Austausch mit den Gästen suchen. So wurde auf dieser Reise das Kurdische fast zur Lingua franca. Bei sensiblen Themen wie Standhalten oder Exil macht das den Unterschied von einem allgemeinen zu einem persönlicheren Austausch. Es stärkt die Solidarität gemeinsamer Erfahrungen in der Türkei und in Deutschland.

Aktuelle Schwerpunkte, die die Gäste in diesem Jahr mitbringen, kristallisierten sich schnell heraus:

Langzeithäftlinge aus den 1990er Jahren, deren Entlassungen aktuell stattfinden. Der Sozialarbeiter der Türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV, die seit Jahrzehnten multiprofessionelle Hilfe für Häftlinge und Folteropfer anbietet, schildert eindrücklich, wie die Unterstützung dieser Menschen eine riesige Herausforderung darstellt. Wer in den 90er Jahren das Verschwindenlassen überlebte, war in Untersuchungshaft und Gefängnis über lange Zeiträume schwerster physischer, psychischer, oft sexualisierter Folter ausgesetzt. Die Überlebenden sind jetzt in der Regel schwer krank, haben ihre Bezüge verloren und stehen schwer traumatisiert einer gänzlich veränderten Gesellschaft gegenüber. Ihr Hilfsbedarf ist enorm.

Das Spionagegesetz, das zur Verabschiedung ansteht. Mit der Kriminalisierung von Auslandskontakten und -finanzhilfen werden, wie unter anderen autokratischen Regimes auch, türkische, vor allem kurdische NGOs von wichtiger Solidarität abgeschnitten. Aktuell droht der Türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV die Aufkündigung ihre Unterstützung aus Schweden, die 70 Prozent ihres Finanzbudgets ausmacht. Gleichzeitig steige aber der Hilfsbedarf. Zu den Opfern zunehmender Repression und fortgesetzter kollektiver Traumatisierung komme gerade jetzt die Gruppe der Langzeitinhaftierten dazu. Auch andere NGOs wie der Frauenverein „Rosa“ aus Diyarbakir (Amed) befürchten ein Wegbrechen internationaler Solidarität. Als Verein, der nicht nur Nothilfe, sondern feministische Analyse und Fortbildung anbietet, werden sie von einem Staat, der Frauen wieder massiv an den Herd und in die Mutterrolle drängen will, niemals Unterstützung erfahren. Betroffen sind alle NGOs, wie unsere Gäste aus Geflüchteten-, Umwelt-, Gewerkschafts-, Menschenrechtsarbeit u.a. berichten. Die Kommunen, die nach den für die DEM-Partei erfolgreichen Wahlen im März wieder soziale, ökologische, wirtschaftliche und kulturelle Arbeit aufnehmen wollen, stehen nach Jahren der Zwangsverwaltung durch Ankara vor leeren kommunalen Kassen.

Überschwemmung der Region mit Drogen: Die Gäste sehen diese aktuelle Entwicklung „nach Jahren der Repression als letzten staatlichen Trumpf“. Die Region werde aktuell von Drogen wie Crystal Meth und Opioiden geflutet. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Not und hoher Arbeitslosigkeit sind vor allem die Jugend und vulnerable Gruppen wie Binnengeflüchtete (etwa der Dorfvertreibungen und der Städtekriege 2015-16) besonders von Konsum und Drogenkriminalität betroffen. Für Familien, Kommunen und zivilgesellschaftliche NGOs bedeute das verschärfte Herausforderung und Belastung. Die Gäste wünschen sich wie in anderen Bereichen auch hier gemeinsame internationale Fortbildung, Austausch und Unterstützung.

Frankfurt

Es fanden Treffen mit Medico international, der Neuen Richtervereinigung, der hessischen Ärztekammer, Fatra e.V. (Beratung und Therapie für traumatisierte Geflüchtete) und dem multikulturellen Kindergartenprojekt Ebi e.V. statt. Eine öffentliche Abendveranstaltung bei Medico am 17. September 2024 war voll besucht. Über den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei diskutierten Anita Starosta von Medico mit   u.a. mit Vertreter*innen der Anwaltskammer Van und der Türkischen Menschenrechtsstiftung Diyarbakir.

Hanau

Newroz Duman von der „Initiative 19. Februar“ konnte über Hergang der rassistischen Morde von Hanau 2020, die Situation der Opferfamilien und das Versagen staatlicher Stellen berichten. Sie sprach fokussiert die kurdischen Gäste an, da sie mit rassistischen Strukturen vertrauter seien und sowohl für die Türkei wie Deutschland keine allgemeinen Erklärungen mehr bräuchten. Wer sich wirklich interessiere, finde Rechercheergebnisse und Veranstaltungen im Internet. Erst 2024 habe sich der wohlgemerkt neue hessische Innenminister Roman Poseck bei den Opferfamilien entschuldigt. Die Recherche des Vaters von Vili-Viorel Paun hat zutage gebracht, dass es beim Hanauer Notruf kein Weiterleitungssystem für nicht angenommene Anrufe gab und nur ein einziger Anschluss besetzt war. So habe sein Sohn, der den Täter stellen und verfolgen wollte, noch sein Handy in der Hand gehabt, als er von diesem mit einem Kopfschuss hingerichtet wurde. Bei besetzter Einzelleitung habe Vili keine Chance gehabt, den Notruf zu erreichen.

Die Initiative arbeitet mit „FA / Forensis“ in London zusammen, die auch Gutachten im Fall des 2015 ermordeten Vorsitzenden der Anwaltskammer Diyarbakir Tahir Elçi oder des NSU-Mordes an Halil Yozgat 2006 in Kassel erstellten. Als 2021 eine Frankfurter SEK-Einheit wegen rassistischer und rechtsextremer Chats aufgelöst wurde, stellte sich heraus, dass am 19. Februar 2020 von den 18 suspendierten Beamten 13 in Hanau im Dienst waren…

In Hanau besuchten wir anschließend die „Welle“, eine gemeinnützige GmbH, die mit 400 Mitarbeiter*innen landesweit und international traumapädagogische Fortbildungen für Schulen und andere Institutionen anbietet. Es ist ein entspannter Besuch, bei dem wir in einer geschützten Atmosphäre auch Prävention von Sekundärtraumatisierung ansprechen und praktizieren können. Die „Welle“ hatte 15 Aktivist*innen aus der Kinderarbeit in Diyarbarkir 2022 auf deren Wunsch hin zu einer Fortbildung nach Hanau einladen können. Geschäftsführer Thomas Lutz erklärt uns mit Bildern aus dieser Fortbildung sowie von zweimaligen Reisen nach Rojava die Besonderheiten ihrer Arbeit. In Kobane hat sein Team auf Wunsch und Einladung der „Freien Frauen Syriens“ Gruppenarbeit mit den Pädagog*innen des Waisenheims „Keskesor Alan“ gemacht („Alans Regenbogen“, benannt nach Alan Kurdi, der im Alter von drei Jahren vor Lesbos ertrank). Die Bilder zeigen glückliche, engagierte Menschen beim gemeinsamen Lernen und Arbeiten. Sie zeigen aber auch die hohe Schutzmauern des Waisenhauses, das u.a. mit Tiefbunkern gegen Drohnenangriffe ausgestattet ist. Türkei und Islamischer Staat greifen Kobane weiterhin an.

Mit allen Tücken der Deutschen Bahn ging es dann weiter nach Berlin.

Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied.

Ein vielfältiges Bild zivilgesellschaftlicher Aktivitäten

Auf dem Bahnhof mit all unserem Gepäck.

Auf dem Bahnhof mit all unserem Gepäck. Foto: IPPNW

Rückblick: Deutschlandreise von Partnern aus Diyarbakir

Eine Woche schon hat uns der Alltag wieder, seit einer Woche sind unsere Gäste aus Diyarbakir – bisher unbehelligt – wieder zu Hause. Es waren drei sehr intensive Wochen, in denen wir uns kennengelernt haben, drei Wochen mit einem ehrgeizigen Programm, mit vielen Begegnungen, vielen Gesprächen, fruchtbarem Austausch über die Arbeit der Zivilgesellschaft hier und dort in Krisenzeiten, drei Wochen, in denen Kontakte geknüpft und weitere Zusammenarbeit verabredet wurde.

In den beiden vorangegangen Blogs haben wir über die Tage in Braunschweig und Hannover und über den Besuch in der IPPNW-Geschäftsstelle berichtet. Wir waren auf Vermittlung des IPPNW-Vorstandsmitglieds Robin Maitra Gäste der Bundesärztekammer, wo sich neben dem Menschenrechtsbeauftragten Dr. Bobbert und dem Präsidenten Dr. Klaus Reinhardt vor allem Dr. Domen Podnar aus der Abteilung Internationales für uns Zeit nahm: „Wenn wir etwas für andere Menschen tun wollen, müssen wir auch geschützt sein. Auch wenn die Gefahr für die kurdischen Besucher in ihrer Heimat ungleich größer ist und vom Staat ausgeht, so gibt es doch auch in Deutschland zunehmend Angriffe und Gewalt gegen Ärzt*innen – von Extremisten, aber auch von der Regierung.“ Weiterlesen